Niemand, Den Du Kennst
was«, sagte ich.
Dad lächelte. »Bist du dafür nicht noch ein bisschen zu jung?«
Viele Jahre später trat ich eine Stelle als Bürohilfe bei Golden Gate Coffee in South City an. Als mir der Besitzer, Mike Stekopolous, eine unbefristete Stellung als seine Assistentin anbot, nahm ich ohne Zögern an; es war die erste Firma, in der ich mich wirklich zugehörig fühlte. Ich arbeitete bereits ein Jahr für Golden Gate Coffee, als ich Mike zum ersten Mal auf einer seiner Reisen begleitete. Damals war ich einunddreißig Jahre alt und auf der Suche nach etwas, das ich nicht genau benennen konnte - einem Gefühl von Frieden und Wohlbefinden, das sich mir seit Lilas Tod entzogen hatte. Auf einem kleinen Stück Land in der Nähe von Quetzaltenango in Guatemala pflückte ich Seite an Seite mit drei Generationen einer Campesino -Familie reife Kaffeekirschen von glänzenden Bäumen. Am Ende des Tages schmerzte mein Rücken, meine Finger waren wund und meine Jutetasche nur halb voll; erstaunt erfuhr ich, dass man zweitausend handgepflückte Kirschen braucht, um ein einziges Pfund Kaffee zu produzieren. Am nächsten Tag ließ ich mich durch den Verarbeitungsschuppen
führen, wo die unreifen von den guten Kirschen getrennt werden, welche dann wiederum in den Pulper gefüllt wurden, bevor am Ende die Bohnen, immer noch in eine dicke Pergamenthaut gehüllt, nach Größe sortiert wurden. Ich sah die Fermentationsbecken, tauchte meine Hände hinein und spülte den klebrigen Fruchtschleim ab, bis die glatten, grünlichen Bohnen mit ihren feinen Furchen zum Vorschein kamen. Schließlich half ich dabei, die Bohnen auf riesigen Planen zum Trocknen auszubreiten und sie in der Sonne hin und her zu rechen.
Erst, als ich den gesamten Prozess einmal von Anfang bis Ende miterlebt hatte, nahm Mike mich mit in den Verkostungsraum - einen kleinen Schuppen auf einer Lichtung, mit weiß getünchten Wänden und einem Fußboden aus festgestampfter Erde. Dort, als ich die dunkle Kruste auf den Bechern mit einem schweren Löffel aufbrach, erinnerte ich mich an den Morgen, als ich mit meinem Vater zusammen am Tisch gesessen und Kaffee geschlürft hatte. Es war das erste Mal in meinem Erwachsenenleben, dass ich mir eine Version meiner eigenen Geschichte vergegenwärtigen konnte, in der die verschiedenen Einzelteile irgendwie zusammenfanden, in der die unterschiedlichen Stränge zu verschmelzen begannen.
5
MORD IN DER BUCHT kam an einem Dienstag im Juni in die Läden, achtzehn Monate nach Lilas Tod. Am darauffolgenden Sonntag platzierte ein Rezensent namens Semi Chellas eine begeisterte Besprechung auf der Titelseite des San Francisco Chronicle und prophezeite darin, dass das Buch ein »Klassiker des True-Crime-Genres« würde. Tage später stieß ich zufällig auf einen Artikel, den Thorpe für das San Francisco Magazine geschrieben hatte, betitelt »Lilas Geschichte«. Darin beschrieb er ausführlich seine Freundschaft mit mir und behauptete, Lila sei zwar die Hauptfigur seines Buches, ich aber sei seine Muse gewesen. Mir wurde übel beim Lesen. Ich hoffte nur, dass meine Eltern nichts von dem Artikel gehört hatten; falls doch, so verloren sie jedenfalls kein Wort darüber.
Ich behielt die Literaturseiten im Auge und stellte besorgt fest, dass das Buch auf Platz sieben der Sachbuch-Bestsellerliste des Chronicle einstieg. Woche für Woche kletterte es weiter, von sieben auf fünf, dann auf zwei und schließlich auf Platz eins, wo es dreiundzwanzig Wochen lang blieb. Ich konnte an keinem Buchladen vorbeilaufen, ohne es gut sichtbar im Schaufenster ausgestellt zu sehen, oft noch zusammen mit einem großen Poster, auf dem der Buchumschlag - ein Foto von Lilas Gesicht, das geisterhaft über der Golden Gate Bridge schwebt - neben Thorpes Porträt abgebildet war:
Opfer und Autor Seite an Seite. Der Gedanke, dass all diese Leute etwas über Lila lasen, dass ihre persönliche Tragödie der öffentlichen Unterhaltung diente, war schrecklich für mich.
In der dritten Woche nach Erscheinen des Buches ließ ich in einer Autowerkstatt auf dem Geary Boulevard einen Ölwechsel machen. Während ich dort saß und wartete, sah ich, dass die Frau mir gegenüber Mord in der Bucht las. Sie bemerkte meinen Blick und fragte: »Haben Sie es gelesen?«
»Nein.«
»Das sollten Sie aber. Es ist faszinierend. Stellenweise etwas zäh, wenn es um Mathe geht, aber insgesamt wirklich empfehlenswert. Schon gruselig, wenn man überlegt, dass es genau hier passiert ist, in San
Weitere Kostenlose Bücher