Niemand, Den Du Kennst
sein, was ihre Eltern brauchten, sich wie durch ein Wunder in die gute Tochter zu verwandeln.
Die Ironie lag darin, dass, sollte jemals eine Chance für mich bestanden haben, »die gute Tochter« zu sein, diese mit der Veröffentlichung von Thorpes Buch ein Ende fand. Während meine Mutter tapfer versuchte, mich wie immer zu behandeln, konnte mein Vater seine Enttäuschung nicht verbergen. Ich hörte sie in seiner Stimme, wenn er mit mir sprach, las sie in seiner Miene, wenn er mich ansah. In meiner Familie war man ehrgeizig - mein Vater mit seiner erfolgreichen Vermögensberatung, meine Mutter mit ihrer angesehenen Anwaltskanzlei, Lila mit ihrem vielversprechenden Genie. Nur eine von uns war Durchschnitt - eine Panne im genetischen Code vielleicht, eine Verwässerung der Enderlin’schen Erfolgsorientiertheit. Meine Mittelmäßigkeit war ein Makel, über den mein Vater weitgehend hinweggesehen hatte, solange
Lila am Leben war. Mit einem Wunderkind wie ihr konnte er darüber hinwegsehen, dass ich nur Mittelmaß war. Selbst nach ihrem Tod gab es eine Schonfrist, während der ich das Gefühl hatte, er wollte mir einen Vertrauensbonus gewähren; zum ersten Mal in meinem Leben zeigte er Interesse an meinem Studium, stellte häufig Fragen über meine Kurse, meine Ziele. Ich bemühte mich sehr, mir gebührende Antworten auf seine Fragen einfallen zu lassen, verschwieg, dass ich die meisten meiner Kurse schwänzte oder dass meine Beteuerungen, in die Fußstapfen meiner Mutter zu treten und Anwältin zu werden, leere Versprechungen waren. Eine kurze Zeit lang setzte er dem Anschein nach echtes Vertrauen in mich. Doch nach dem Erscheinen des Buches veränderte sich alles. Unsere Gespräche wurden kürzer und kürzer, das Schweigen zwischen uns angespannter. Ich vermutete, dass es ihn Mühe kostete, nicht auszusprechen, was er dachte: dass dieses Buch meine Schuld war, dass ich durch meine Indiskretion die private Tragödie unserer Familie zu einem öffentlichen Schauspiel gemacht hatte.
6
DAS SECHSTE KAPITEL von Mord in der Bucht richtete mehr als jedes andere das Scheinwerferlicht auf unser Familienleben. Unter der Überschrift »Zwei Schwestern« befasste es sich besonders mit der Beziehung zwischen Lila und mir. Als ich das Buch in jener Nacht las, drei Wochen nach seinem Erscheinen, erschauderte ich bei dem Bild, das Thorpe von uns beiden zeichnete, und bei der Vorstellung, dass unsere Persönlichkeiten so einfach zusammengefasst werden konnten.
Eine war groß und dunkel , begann das Kapitel, die andere zierlich und hell. Eine war ein mathematisches Wunderkind, die andere hingegen ständig in Bücher vertieft .
Jeder der beiden Sätze stimmte im Grunde genommen, obwohl diese Sprache eine Art Märchengegensätzlichkeit unterstellte, die im realen Leben nicht bestanden hatte. Lila war tatsächlich etwa sieben Zentimeter größer als ich und besaß wie mein Vater einen dunklen Teint und braunes Haar, während ich die helle Haut, die roten Haare und die kleinere Statur des schottisch-irischen Familienzweigs meiner Mutter geerbt hatte. Abgesehen von diesen Unterschieden aber konnte man deutlich erkennen, dass wir Schwestern waren - was auch häufig von Leuten kommentiert wurde, wenn sie uns zusammen sahen. Beide hatten wir dunkelbraune Augen, Grübchen und eine rundliche Gesichtsform.
Uns waren die wenig ausgeprägten Wangenknochen meiner Mutter und die gerade, strenge Nase meines Vaters gemeinsam. Und beide hatten wir viel Glück in Bezug auf unseren Mund, der durch eine erfreuliche Laune der Gene die geschwungenen Lippen meiner Mutter mit den vollen meines Vaters vereinte.
Auf der gegenüberliegenden Seite des ersten Absatzes von Kapitel sechs war ein Foto von mir und Lila abgedruckt, aufgenommen am Tag ihrer Abschlussfeier in Berkeley. Sie sah gelehrt und seriös aus in ihrem Barett und dem Talar, das lange Haar zum Pferdeschwanz gebunden. Mit meinem ausgeschnittenen Sommerkleid und den Sandalen, die Haare offen über die Schultern fallend, passte ich ins Bild der unbeschwerten jüngeren Schwester. Verstärkt wurde der Kontrast noch dadurch, dass Lila niemals mehr als einen Hauch Wimperntusche und einen Tupfer blassen Lippenstift trug, wohingegen ich mir den Mund in üppigen Rottönen schminkte. Das Foto war ursprünglich in Farbe gewesen, sodass mein Lippenstift durch den Schwarz-Weiß-Abdruck auf billigem, porösem Papier noch dunkler wirkte. Die Leser waren womöglich bei der Betrachtung des Fotos zutiefst davon
Weitere Kostenlose Bücher