Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Niemand, Den Du Kennst

Titel: Niemand, Den Du Kennst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michelle Richmond
Vom Netzwerk:
Sie ging zu ihrem
Schreibtisch, schrieb etwas auf ein Stück Papier und zeigte es mir: z 2 = 0,04 - x 4 + 2x 6 - x 8 + 2x 2 y 2 - 2x 4 y 2 - y 4 . Einige Tage nachdem ihre Leiche gefunden worden war, fiel mir der Zettel an ihrer Pinnwand ins Auge. Mir wurde bewusst, dass es das Letzte war, was sie speziell für mich aufgeschrieben hatte. Ich warf es nie weg. Jahrelang begleitete es mich in meiner Brieftasche, wie ein Geheimcode.
    Lila knöpfte ihr Pyjamaoberteil über der Tätowierung wieder zu. »Jemand hat mit mir gewettet.«
    »Wer?«
    Sie lächelte, ein sehr versonnenes Lächeln, als wäre ich überhaupt nicht anwesend. »Niemand, den du kennst.« Damals im Leichenschauhaus in Guerneville, Hand in Hand neben Lilas Leiche stehend, sahen meine Eltern das Tattoo zum ersten Mal. Auch diese Szene wurde von Thorpe beschrieben, der natürlich nicht dabei gewesen war, in seinem Vorwort jedoch behauptete, eine »Dramatisierung dieses und anderer Geschehnisse, seien sie auch fiktiv, war notwendig, um die Geschichte wahrhaftig zu erzählen«. Aber es gab Dinge, die er korrekt darstellte: die Überraschung meiner Eltern über die Tätowierung, den Geruch von chinesischem Essen, der aus dem Büro der Leichenhalle drang, die monotone Stimme meines Vaters, als er mich anrief - Dinge, die Thorpe nur wusste, weil ich sie ihm erzählt hatte.
    Für ihn war es eine Story, schlicht und einfach. Vor dem Buch hatte er mehrere Jahre lang an diversen Universitäten in der Gegend um San Francisco in Teilzeit unterrichtet. Er gestand mir, dass er nur deshalb an der University of San Francisco gelandet war, weil sie über den schönsten Ausblick und die kürzesten Semester verfügte. »Früher dachte ich, dass das Unterrichten der perfekte Beruf wäre«, erzählte er mir in den Anfangstagen unserer Freundschaft. »Ich hatte die
Illusion, dass alle aus Liebe zur Literatur dabei waren. Aber das war, bevor ich herausfand, wie viel Neid und Intrigen da im Spiel sind. Ich mag die Studenten wirklich, aber ich hasse das System. Ich muss mir unbedingt einen Ausweg einfallen lassen.«
    Das Buch war Thorpes Rettung. Er war zweiunddreißig Jahre alt, als er durch Mord in der Bucht einen gewissen Bekanntheitsgrad erreichte. Jedes Mal, wenn ich mir den Literaturteil des Chronicle durchlas, tauchte sein Name auf. Eines Morgens frühstückte ich vor dem Fernseher und sah ihn in der Today Show im Interview mit Bryant Gumbel. Er sah völlig anders aus als der Andrew Thorpe, den ich kannte, glatt und geschliffen und herausgeputzt in eleganten, maßgeschneiderten Kleidern, mit teuren Schuhen. In der folgenden Woche schob sich Mord in der Bucht auf die Bestsellerliste der New York Times . Thorpes Name stand jetzt immer häufiger unter Artikeln in Hochglanzmagazinen wie Harper’s und GQ, und schließlich bekam er seine eigene Kolumne im Esquire . Er verfasste noch drei weitere Tatsachenromane im gleichen Stil und wurde von Mord zu Mord reicher. Hin und wieder sah ich ihn auf CNN über einen neuen ungelösten Fall sprechen, als wäre er ein forensischer Experte. Und vielleicht war er das mittlerweile auch.
    Zwar verachtete ich die offensichtliche Profitgier hinter Mord in der Bucht , doch eines konnte ich nicht abstreiten: Thorpe hatte gut recherchiert.
    Letztendlich waren die Indizien spärlich und die polizeiliche Untersuchung verlief schleppend. Lilas Fall hatte zu keinem Zeitpunkt besondere Priorität für die Polizei von San Francisco, die sich damals gerade mit einem Skandal, in den der Sohn des Polizeichefs verwickelt war, herumschlug. Der Behörde in Guerneville wiederum mangelte es an finanziellen
Mitteln und Personal. Obwohl Lilas Tod als Mord eingestuft wurde, kam es nie zu einem Prozess. Thorpe jedoch hatte eine Theorie, die er sich aus einer komplexen Abfolge von Hinweisen und scheinbar gut durchdachten Vermutungen zusammengereimt hatte. Sorgfältig, überzeugend legte er seine Hypothese über 296 Seiten hinweg dar. Ergänzend zu den Einzelheiten des Falls fanden sich lange Passagen über Lila, meine Eltern, mich.
    Das hier ist nicht nur die Geschichte der ermordeten jungen Frau , schrieb Thorpe im Vorwort. Es ist auch die Geschichte ihrer Schwester, derjenigen, die zurückblieb. Ich kannte sie persönlich. Man kann durchaus sagen, dass ich sie sehr gut kannte. Teile dieses Buches sind unmittelbare Mitschriften von Gesprächen, die ich mit Ellie Enderlin führte. In den Wochen und Monaten nach dem Tod ihrer Schwester bemühte sie sich, genau das zu

Weitere Kostenlose Bücher