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Niemand, Den Du Kennst

Titel: Niemand, Den Du Kennst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michelle Richmond
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Francisco. Ich kenne die Straßen, die der Autor beschreibt, ich habe in den Restaurants gegessen, mein Sohn Lowell ist sogar auf dieselbe Schule gegangen wie Lila. Er kann sich an sie erinnern, sie muss sehr still gewesen sein, hübsch, ein bisschen seltsam. Ich bin schon fast durch. Gerade wurde der Name des Mörders genannt.«
    »Ach ja?«
    »Ja. Aber ich will Ihnen nicht die Spannung verderben.«
    Sie betrachtete das Cover, dann wieder mich. »Sie sehen ihr irgendwie ähnlich.«
    Nachdem ich den Ölwechsel bezahlt hatte, fuhr ich zu Green Apple Books auf der Clement Street. Bis dahin war ich fest entschlossen gewesen, Thorpes Buch nicht zu lesen. Doch die Frau in der Autowerkstatt hatte mich überrumpelt. War es möglich, dass Thorpe wirklich gelungen war, was er angekündigt hatte - dass er am Ende etwas herausgefunden hatte, was die Polizei nicht wusste? Das Buch lag unübersehbar in hohen Stapeln bei den Neuerscheinungen. Ein goldener Aufkleber, genau über Lilas linkem Auge, verhieß Signiert
. Es gehörte zu den Buchhändlerempfehlungen. Ein von jemandem namens Pate handgeschriebenes Kärtchen erklärte, das Buch »erinnert an Capotes Kaltblütig , ein unheimlicher Bericht über einen grausigen Mord, den Sie garantiert nicht mehr aus der Hand legen können«. Am liebsten hätte ich die Karte abgerissen und sämtliche Stapel in die Kalenderabteilung ganz hinten im Laden geräumt. Stattdessen nahm ich mir ein Exemplar, legte es an die Kasse und bezahlte bar für die Geschichte des Lebens und Sterbens meiner Schwester. An diesem Abend begann ich in meinem Zimmer zu lesen.
    Der Bericht begann mit einer ausführlichen Beschreibung der Umstände, unter denen Lilas Leiche entdeckt wurde. Thorpe zitierte den Wanderer, der sie im Wald gefunden hatte: »Ich stand so da und zog meinen Reißverschluss auf, um zu pinkeln, da bin ich mit dem Fuß gegen etwas gestoßen und gestolpert. Als ich mich wieder gefangen hatte und entdeckte, dass das ein Mensch war, bin ich total durchgedreht. Ich hab mich gegen den nächsten Baum gelehnt und mir die Seele aus dem Leib gekotzt.«
    Noch Wochen danach konnte ich das Bild dieses Fremden mit offener Hose nicht abschütteln, der sich neben der Leiche meiner Schwester übergibt. Ich hätte alles darum gegeben, sie zu finden, ihr Haar mit meinen Fingern zu kämmen und ihr den Schlamm vom Gesicht zu wischen. Ich hätte alles darum gegeben, sie mehr wie sie selbst aussehen zu lassen, weniger entblößt, bevor die Polizisten mit ihren Notizblöcken und Polaroidkameras eintrafen.
    Thorpe war kein Detail zu persönlich oder zu schaurig, um darüber zu berichten. Er beschrieb die Fotos vom Tatort, als beschriebe er einen Gemäldezyklus: die blassblaue Farbe der Haut meiner Schwester, den hohen Bogen ihrer dunklen
Augenbrauen, die Art und Weise, wie ihre blutverschmierten Haare ihr Gesicht wie ein Fächer umrahmten. Selbst das quälende Detail, dass die Polizisten sich die Nase zuhielten, als sie sich Lila näherten, da sie bereits einige Tage tot war, ließ er nicht aus. Sie lag gerade ausgestreckt, züchtig auf dem Rücken, die Arme am Körper anliegend, ein Häufchen Laub unter dem Kopf wie ein Kissen - eine Stellung, die die Polizei zu der Vermutung veranlasste, dass ihr Mörder sie gekannt haben musste.
    Der Täter schien Mitgefühl mit seinem Opfer gehabt zu haben , schrieb Thorpe. Beinahe, als brächte er sie zu Bett und machte es ihr für die lange Nacht bequem.
    Sie war angezogen gewesen, als der Wanderer sie fand, aber ihre Bluse unter der Jacke klaffte weit auf, die oberen vier Knöpfe fehlten. Thorpe verwendete mehrere Sätze auf die Beschreibung ihres blassgelben BHs, einen ganzen Absatz auf die der kleinen Tätowierung oberhalb ihrer linken Brust. Sie hatte sie sich wenige Wochen vor ihrem Tod stechen lassen und sie mir eines Abends stolz gezeigt, bevor wir ins Bett gingen.
    »Was ist das?«, hatte ich gefragt und mit den Fingern über die dunkelviolette Tinte gestrichen.
    »Ein Doppeltorus, beziehungsweise das einem Doppeltorus Ähnlichste, was ich auf der Haight Street kriegen konnte.«
    »Was ist ein Doppeltorus?«
    »Ein geometrisches Gebilde mit zwei Griffen und zwei Löchern, bestehend aus zwei sich berührenden Tori. Stell es dir als zwei aneinandergeklebte Donuts vor.«
    »Was um Himmels willen hat dich geritten, dir zwei Donuts tätowieren zu lassen?«, wollte ich wissen.
    »Der Doppeltorus ist ein sehr elegantes topologisches Konstrukt. Man kann ihn so darstellen …«

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