Niemand hört mein Schreien: Gefangen im Palast Gaddafis (German Edition)
besuchen, wo die Frauen ihre schönsten Sonntagskleider vorführten. Wenn er nicht selbst hingehen konnte, schickte er seine Emissäre und verbrachte später eine aberwitzige Zeit damit, sich die Fotos und Videos anzusehen, die sie gemacht hatten. Ein Fotograf im Zentrum von Tripolis sagte mir, dass er immer tausend Vorwände erfand, um nicht die angeforderten Abzüge seiner Hochzeitsaufnahmen an Bab al-Aziziya übergeben zu müssen. Junge Mädchen bestätigten mir später, dass sie freiwillig darauf verzichteten, an bestimmten Feiern teilzunehmen, die in den großen Hotels von Tripolis stattfanden – aus Angst, gefilmt zu werden und dadurch dem Führer oder seiner Clique aufzufallen. Manche Eltern lebten ständig in dieser Furcht und verboten ihren Töchtern, die ohnehin keine sozialen Kontakte pflegen durften, sich lange auf Festen oder bei Umzügen aufzuhalten, erst recht, wenn sie in den Mauern von Bab al-Aziziya ausgerichtet wurden. Denn in der Residenz des Führers, obschon bewacht wie eine Festung, empfing man ohne Unterlass Gruppen von Schülern und jungen Aktivisten. Ein Geschenk des Himmels für den Herrn des Hauses.
Seine Angestellten, Chauffeure, Wächter, Soldaten wurden oft aufgefordert, ihm Fotos und Filme ihrer Hochzeiten zukommen zu lassen. Manche waren anfangs ganz gerührt, dass der Führer sich dafür interessierte. Aber alle haben diese Illusion aufgeben müssen. Wenn ein weiblicher Gast, eine Schwester oder Cousine das zweifelhafte Glück hatte, ihm zu gefallen, wurden sie beauftragt, ein Treffen zu arrangieren. Und es kam, wie es kommen musste. War es die junge Braut selbst, die es dem Herrn angetan hatte, erfuhren die Ehemänner davon erst, wenn es zu spät war. Der Oberst wusste es dann so einzurichten, dass sie unter dem Vorwand irgendeiner Mission von zu Hause ferngehalten wurden, und nutzte die Gelegenheit, ihre Gattin zu sich kommen zu lassen oder aber ihr einen Besuch abzustatten. Ein Besuch, der nichts Höfliches an sich hatte, der, sollte die Frau sich widersetzen, in einer Vergewaltigung endete. Wie viele furchtbare Geschichten habe ich gehört von Wächtern, die nach dem Geständnis ihrer jungen Ehefrau, rasend vor Wut, vor Verzweiflung, vor Eifersucht, sich am Führer rächen wollten und schließlich auf seinen Befehl hin massakriert wurden! Einige wurden gehenkt, andere gevierteilt. Zwei von ihnen wurden Arme und Beine an Autos gebunden, die in entgegengesetzte Richtungen losfuhren. Die Szene wurde gefilmt und den frisch eingestellten Garden vorgeführt, damit sie wussten, welchen Preis man für den Verrat am Herrn von Bab al-Aziziya zu zahlen hatte.
Krankenschwestern, Lehrerinnen, Kinderpflegerinnen waren ebenfalls in seinem Fokus. Die Direktorin einer Kinderkrippe in Tripolis hat mir vor allem von einer ihrer hübschen Angestellten berichtet, die eines Tages Besuch von drei Amazonenerhielt, die sie aufforderten, sich einem Stab junger Frauen anzuschließen, die auserwählt waren, am Flughafen eine Delegation aus Südafrika mit Blumen zu empfangen. »Machen Sie sich vor allem schön!« Einige Tage später wurde sie in einem Minibus abgeholt, der plötzlich die Straße, die zum Flughafen führte, verließ und in Richtung Bab al-Aziziya abbog. Eine Überraschung, die den jungen Frauen sehr angenehm war, zumal der Führer sie rasch mit einer kleinen improvisierten Rede empfing. Während alle anderen anschließend wieder in den Bus stiegen, sah sich die junge Kinderpflegerin in ein kleines Zimmer mit Whirlpool gedrängt, wo zwei Krankenschwestern ihr blitzschnell Blut abnahmen. Dann erschien Gaddafi, das Lächeln in seinem Gesicht war verschwunden. Seine Absichten waren nur zu deutlich. Die junge Frau geriet in Panik: »Ich bitte Sie, fassen Sie mich nicht an. Ich komme aus den Bergen. Und ich habe einen Verlobten!« – »Ich lasse dir die Wahl«, antwortete der Führer. »Entweder töte ich ihn, oder ich lasse dich ihn heiraten, schenke dir ein Haus, und du wirst uns beiden gehören.«
*
Ein Mitarbeiter aus dem engen Umfeld des Diktators, der täglich an seiner Seite arbeitete, jedoch keine Entscheidungsbefugnis hatte, erklärte sich schließlich bereit – allerdings sehr widerstrebend –, über das Thema zu sprechen. Er leugnete zunächst, auch nur irgendetwas über das zu wissen, was er »das Privatleben des Bruders Führer« nannte, und sagte, er habe es immer abgelehnt, sich diesbezüglich einzumischen. »Ich sah abends zu, dass ich wegkam, und ich habe niemals, das
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