Niemand hört mein Schreien: Gefangen im Palast Gaddafis (German Edition)
in Tunesien gesehen zu haben. Dann wieder erreichte mich eine Agenturmeldung, derzufolge sie zahlreiche Respektpersonen mobilisiert hatte, hauptsächlich unter den Tuareg, die sich bei den algerischen Behörden dafür einsetzen sollten, dass man ihr politisches Asyl gewährte. Das ihr jedoch verweigert wurde. Anfang März 2012 erfuhr ich, dass sie ihre Rückkehr auf libyschen Boden »verhandelt« habe und dass sie unter Hausarrest in Ghat gestellt sei, wo sie mit ihrer Mutter lebte. Sie zu treffen erwies sich trotz meiner Hartnäckigkeit als unmöglich. Zu meiner großen Überraschung allerdings schien Ottman Makta, der imposante Rebellenführer von Az-Zintan, nach seinem drei lange Tage andauernden Verhör Nachsicht walten lassen zu wollen. »Sie hat ihr großes Bedauern zum Ausdruck gebrachtund sogar um Verzeihung gebeten«, sagte er. »Sie behauptete, nicht aus freien Stücken gehandelt zu haben. Niemand war damals frei! Ich habe mitbekommen, wie sehr sie an ihrer alten Mutter hängt, und ich hatte den Eindruck, es mit einem guten Menschen zu tun zu haben, dem man einen viel zu großen Mantel überhelfen will.«
Ein guter Mensch ... Ich traute meinen Ohren nicht. War es möglich, dass sie ihre Aufseher umgedreht hatte? Sollte ich ihnen Sorayas Zeugnis zukommen lassen?
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Kriegswaffe
Es kommt häufig vor, dass Artikel geschrieben werden, die keiner wünscht. Aber es ist schließlich die Aufgabe von Journalisten, Themen zu bearbeiten, die stören, Informationen zutage zu fördern, die irritieren, Wahrheiten ans Licht zu bringen, die für Ärger sorgen. »Unser Beruf besteht nicht darin, zu gefallen, auch nicht, jemandem zu schaden, sondern die Schreibfeder in die Wunde zu legen«, schrieb Albert Londres, eine Art Schutzheiliger der französischsprachigen Sonderkorrespondenten. Dennoch hatte ich nicht vor, ein Buch zu schreiben, das niemand in Libyen wollte.
Im Laufe meiner Recherchen wurden die wenigen libyschen Freunde, die meinen Vorstoß unterstützten, bedroht. Und auf höchster offizieller Ebene sprach man von Beleidigung. Die Vergewaltigung einer jungen Frau bringt Schande über ihre gesamte Familie, insbesondere über die männlichen Angehörigen; die Vergewaltigung von Tausenden Frauen durch den ehemaligen Staatschef konnte also nur die Schandeder gesamten Nation bedeuten. Eine zu schmerzhafte Vorstellung. Eine unhaltbare These. Ist irgendein Land bekannt, in dem alle Männer in Verruf geraten wären und Schuld auf sich geladen hätten, weil sie ihre Frauen, ihre Töchter, ihre Schwestern vor einem gierigen Tyrannen nicht zu schützen wussten? Also, los! Lieber alles unter den Berberteppich kehren und im Namen des Schutzes der Intimsphäre der Opfer mit dem Etikett »Tabu« versehen. Oder alles leugnen. Von einem »Nicht-Thema« sprechen und wegsehen. Nichts ist einfacher. Die überwältigende Mehrheit der Opfer des Führers wird sich niemals zu erkennen geben. Und zwar aus gutem Grund! Die meisten der »Töchter Gaddafis«, seine Leibgarde, seine »Spezialeinheit«, sein Harem sind geflüchtet, man kann sie getrost als Frauen mit anrüchigem Lebenswandel abtun, als Huren, die Gefallen daran fanden, sich mit Luxus zu umgeben, zu reisen, sich der Wollust des Führers hinzugeben, und die größtenteils von ihren Familien verleugnet wurden. Man betrachtet sie eher als Partner des Führers denn als seine Opfer. Was so viel heißt wie: Sie waren seine Komplizinnen, bar jeder Moral ... Ja, die Versuchung, alles abzustreiten, scheint für die augenblicklichen Herrscher Libyens groß zu sein. Und es ist von Nutzen, die kleinen hässlichen Geheimnisse und die große Feigheit einer Handvoll Männer zu schützen, die früher Diener des Diktators waren und heute als eifrige Revolutionäre an der Seite der neuen Machthaber auftreten. Jene Männer träumen vom ewigen Schweigen. Davon, dass über die Vergewaltigungen nicht gesprochen wird. Dass man die Frauen vergisst. Soraya, Libya, Hadija, Laila, Huda, all die anderen ... So viele »tapfere«, »heldenhafte«, »vorbildliche« Kriegsopfer erwarten von diesem neuen libyschen Staat Anerkennung und Hilfe. Siegelten als die »wahren« Opfer. Und natürlich sind es Männer.
Aber seien wir gerecht, es gibt Ausnahmen. Mohammed al-Alagi ist eine von ihnen. Ihn zu treffen gab mir an einem Tag, an dem ich alles in Zweifel zog und ganz Libyen mir feindlich gesinnt erschien, neuen Schwung. Es war ein Sonntagabend im März, in einem Café im Zentrum von Tripolis. Ein Taxifahrer
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