Niemand ist eine Insel (German Edition)
Einschuß in einer Ausdehnung von zehn mal zehn Zentimeter geröntgt. Es sind tatsächlich Metallsplitter winzigen Ausmaßes im beginnenden Schußkanal und in einem Bereich bis zu zwei Zentimeter vom Einschuß entfernt festgestellt. Die Asservierung der Splitter war möglich. Der Nachweis, daß es sich um Gold handelt, wurde spektrographisch geführt. Durch Vergleichsschüsse stellte ich fest, daß diese Verteilung der Splitter allerhöchstens biszu einer Entfernung von fünfzehn bis zwanzig Zentimeter zwischen Körper und Tasche zustande gekommen sein konnte. Die Entfernung zwischen Laufmündung und Tasche betrug zwischen drei und fünf Zentimeter. Das ergibt eine Gesamtentfernung zwischen Brustkorb und Laufmündung von achtzehn bis fünfundzwanzig Zentimeter.«
Vorsitzender: »Sie bleiben bitte gemeinverständlich, Herr Doktor? Sie haben ja das ausführliche Gutachten zu unseren Akten gegeben.« FEDDERSEN: »Gewiß, Herr Richter. Gemeinverständlich also: An der linken Hemdmanschette des Rettland stellte ich Pulverschmauch fest. Das konnte auf ein Handgemenge deuten – aber auch darauf, daß der Rettland nach der Schußwaffe greifen wollte, ohne daß es zu einem Handgemenge kam. Gleiches galt für die Lage der ausgeworfenen Hülse auf der falschen Seite, nämlich links von der Angeklagten. Diese Lage sprach dafür, daß die Pistole zur Zeit der Schußabgabe sich möglicherweise in einer Stellung befand, die das Auswerfen der Hülse nach links verständlich gemacht hätte, oder daß die Hülse – zum Beispiel vom Unterarm der Angeklagten – abgelenkt worden war. Beide Annahmen sprachen für ein Handgemenge, bei welchem Rettland die Tasche der Angeklagten hochgerissen und vor seine Brust gehalten hatte. Die Lage der Hülse konnte zunächst aber nur bedingt als Indiz eingebracht werden, weil der Fundort ja nicht mit der ursprünglichen richtigen Lage übereinstimmen mußte. Die Lage der Hülse konnte aus vielfältigen Gründen oder Umständen nach dem Schuß und vor der Spurensicherung verändert worden sein.«
Vorsitzender: »Das ist klar. Und nun?«
Feddersen: »Und nun, Hohes Gericht: Es ist mir gelungen, die Indizienkette zu schließen – und zwar (was mein verehrter Herr Kollege, der Erstgutachter, auch nicht getan hat) durch eine genaue Untersuchung der Griffspuren in Form von kleinen Blutergüssen und Kratzern an den Handgelenken der Angeklagten. Das alles gemeinsam gesehen, Hohes Gericht, bedeutet ohne jeden Zweifel: Es ist zu einem Handgemenge gekommen. Bei diesem verdrehte Rettland die Schußhand und damit die Waffe der Angeklagten und löste selber den Schuß aus, der ihn tötete.«
Vorsitzender: »Wollen Sie damit sagen, daß es sich nicht um Mord handelt, sondern daß Rettland sich selbst erschossen hat?«
Feddersen: »Genau das will ich sagen. Es ist meines Erachtens erwiesen, daß nicht die Angeklagte den Rettland erschossen hat, sondern daß dieser, versehentlich natürlich, sich selber erschoß.«
Das, mein Herr Richter, war das dritte gravierende Ereignis im Ablauf des Prozesses, von dem ich nichts ahnte. Ich habe die drei Ereignisse, von denen ich später erfuhr, zum besseren Verständnis alles Folgenden vorweggenommen. Nun kehre ich wieder in die Chronologie der Ereignisse zurück.
Es ist Montag, der 22. Mai 1974, und es ist inzwischen fast 18 Uhr geworden.
Morgen, am 23. Mai 1974, um 10 Uhr 30, soll ich nun endlich als Zeuge im Prozeß gegen Sylvia Moran auftreten.
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D ienstag, 23. Mai 1974, 10 Uhr 50.
Ein Justizwachtmeister hatte mich ins Gericht gebracht. Nun stand ich vor dem Richtertisch. Ich habe noch nie vor Gericht gestanden. Ich weiß, es klingt übertrieben, aber man ist bei einer solchen ersten Ladung vollkommen verstört, erschlagen von der Strenge und Unerbittlichkeit der Maschinerie, die da abrollt. Ich hatte beim Eintreten in den Saal des Schwurgerichts gesehen, daß er überfüllt war. Unter den anwesenden Journalisten entdeckte ich den jungen Florian Bend, der mir zuwinkte. Ich nickte. Von einer weiteren Ausnahme abgesehen, erblickte ich nur fremde Gesichter. Die Männer, die auf einer anderen Bank saßen, waren wohl die Sachverständigen, die den ganzen Prozeß verfolgten. Fotografieren – zumindest während der Verhandlung – schien verboten zu sein. Die Ausnahme: Sylvia Moran. Sie saß bei ihrem Verteidiger Dr. Nielsen auf dem Platz der Angeklagten. Sylvia sah schrecklich aus. Sie trug ein graues Kostüm, nicht ein einziges Schmuckstück, sie war
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