Fluegellos
1
Die Gegenwart
Der Untergrund, an dem mein Hinterkopf ruhte, war nass, kalt und glitschig, wie von Algen bewachsen. Ich konnte mich nicht umdrehen und nachsehen, da ich das Gefühl hatte, dass mein Nacken bei der kleinsten Bewegung in Tausende Splitter zersprang. Er pochte und jagte alle paar Sekunden einen stechenden Schmerz meine Wirbelsäule hinunter, der mich zusammenzucken ließ. Ich saß nur da, ohne mich zu rühren, und ließ die Zeit an mir vorbeiziehen. Ich wollte nicht blinzeln, aus Angst, dass die Person, die mich niedergeschlagen hatte, direkt vor mir stand und nur darauf wartete, dass ich es tat. Damit er die Panik in meinen Augen sehen konnte, bevor er mich tötete.
Er?
Ich konnte mich nicht daran erinnern, wem ich meine Situation zu verdanken hatte. Nicht einmal daran, ob es ein Mann oder eine Frau gewesen war. In meinem Gehirn klaffte ein pechschwarzes Loch, das jede Erinnerung an das Geschehene sofort verschlang, kaum, dass sie es in mein Bewusstsein geschafft hatte. Jedes Mal, wenn es mir kurz gelang, eine Erinnerung einzufangen, wehrte sich mein Schädel mit einem heftigen Schmerz, und ich ließ sie wieder los. Ich musste einen mehr als heftigen Schlag abbekommen haben.
Ich kämpfte gegen die Panik an, die mit jeder verstrichenen Sekunde weiter in mir aufstieg. Das durfte nicht passieren. Ich durfte bloß nicht zulassen, dass ich die Fassung verlor. Nein, ich musste einen klaren Kopf bewahren, versuchen, trotz des Paketbandes auf meinen Lippen gleichmäßig zu atmen, versuchen, mich zu erinnern – und dann versuchen, aus dieser Situation zu entkommen. Irgendwie.
In der Ferne hörte ich jemanden etwas sagen, ganz dumpf ertönte ein helles Lachen und Schritte von High-Heels auf hartem Betonboden, die sich mir jedoch nicht näherten. Im Gegenteil. Sie entfernten sich von mir und waren kurz darauf wieder verklungen. Ich wusste nicht, ob mich das freuen oder verzweifelter machen sollte. Hatte ich hier – wo auch immer ich war – überhaupt Hilfe zu erwarten? Und wenn ja, von wem? Und von wem nicht?
Es gelang mir, meinen Atem unter Kontrolle zu bringen, bis plötzlich ein Geräusch erklang, das mir mehr als bekannt vorkam. Es dauerte, bis ich es zuordnen konnte. Sofort kehrte die Aufregung in mich zurück.
Ein Handy!
Mein Herz machte einen Satz. Nicht nur das. Es musste direkt neben mir liegen! Ich spürte die Vibration als ein leichtes Kribbeln an meinem Oberschenkel!
Sofort riss ich die Augen auf. Wider Erwarten stand vor mir niemand, zumindest konnte ich durch die Dunkelheit hindurch niemanden erkennen. Die einzigen Lichtquellen waren ein wenige Zentimeter hoher Türspalt in der Wand mir gegenüber und das leuchtende Display meines Handys, direkt neben mir. Es musste mir aus der Tasche gefallen sein!
Ich schluckte die Aufregung hinunter und griff danach – oder wollte es zumindest. Plötzlich realisierte ich, dass sich meine Hände nicht bewegen ließen. Sie waren hinter meinem Rücken mit einer rauen Kordel zusammengebunden worden und vollkommen unbeweglich. Sobald ich an meiner Fessel ruckte, scheuerte sie unangenehm an meiner Haut und hinterließ einen brennenden Schmerz. Ich war gefesselt! Ich wollte es mit meinen Fingern zu lockern, aber es war gnadenlos fest um ein Metallrohr gebunden.
Ich konnte mich keinen Zentimeter rühren.
Ich atmete pfeifend ein und blinzelte Tränen fort, die in meine Augen traten und mir die Sicht nahmen. Ich erhaschte einen kurzen, scharfen Blick auf das Handy.
Valentin. Auf dem Display stand der Name Valentin.
Für den Bruchteil eines Augenblicks legte sich in meinem Gehirn ein Schalter um, der jedoch sofort wieder zurücksprang. Ich erinnerte mich dunkel an diesen Namen. Ich kannte ihn. Aber mir fiel kein Gesicht ein, das ich meinem Anrufer geben konnte. Irgendwie beschlich mich die Ahnung, dass er unmittelbar etwas mit meiner Situation zu tun hatte.
Mein Entführer?
Kaum hatte ich das gedacht, strafte ich mich mit einer inneren Ohrfeige. Was für ein Grund sollte mein Entführer haben, mich anzurufen? Nein, Valentin war nicht mein Entführer. Aber wer war er dann?
Ich schloss die Augen wieder, ignorierte das deprimierende Vibrieren und versuchte, das Loch in meiner Erinnerung zu stopfen. Ich musste langsam machen. Nichts überstürzen. Aber egal, wie sehr ich mich anstrengte, mein Gedächtnis blieb so durchlöchert wie zuvor.
Dann zerriss meine Stimme die Stille und mein Herz blieb kurz stehen. » Hi, du sprichst mit der Mailbox von Nina!
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