Niemandsland
seine
Familie praktisch aus dem Nichts zu Milliardären.«
»In welcher Branche?«
»Vor allem in der Schiffahrt.«
»Lionel ist in Hongkong geboren?«
»Ja. Besuchte die Saint Stephen’s Prep
School — wie viele aus der Elite. Der Großvater zog ihn seinem älteren Bruder
vor, er sollte die Familienunternehmen führen. Lionel wurde nach Stanford und
später auf die Harvard Business School geschickt, und er hatte dabei nur zwei
Anweisungen zu erfüllen — erstklassige Zensuren nach Hause zu bringen und
amerikanischer Staatsbürger zu werden. Mehr Anweisungen brauchte er auch
nicht.«
»Jetzt ist die ganze Sippe in den
Staaten?«
»Nur Lionel. Der Rest wird wahrscheinlich
in Hongkong bleiben, bis all ihre Habe transferiert ist und die Kolonie an
China zurückfällt.«
»Wo wohnt Ong?«
»Hier in der Stadt. Die meisten aus
seiner Gruppe bevorzugen die höhergelegenen Vorstädte — Hillsborough ist am
beliebtesten — , aber Lionel fühlt sich dort wohler, wo etwas passiert. Er hat
ein riesiges Haus gleich unterhalb des Sutro Tower — das braucht er auch, weil
er und seine Frau ihre Familienpflicht erfüllt und fünf Kinder in die Welt
gesetzt haben. Nicht, daß ihn das ruhiger gemacht hätte. Die meisten
Hongkong-Familien halten sich lieber im Hintergrund, aber Lionel nicht. Er ist
hochmodisch gekleidet, fährt ein rotes Mercedes-Cabrio mit Angebernummer,
speist mit den richtigen Leuten in den richtigen Läden. Hat eine Geliebte — eine
weiße Amerikanerin die in Telegraph Hill in einem Apartmenthaus wohnt, das der
Transpacific gehört, und noch eine in Sausalito für die Wochenendausflüge.«
»Er ist also schlau, gerissen und
maßlos.«
»Er ist eine Maschine, die Geld macht,
getrieben von Gier und ihrer sofortigen Befriedigung. Mehr sollte er auch nicht
sein. Sein Großvater hielt es nicht für nötig, ihm auch noch Menschlichkeit
beibringen zu lassen.«
Marcys Stimme hatte einen bitteren
Unterton bekommen. Ich konnte verstehen, wie sehr ein Mann wie Ong einer jungen
und durch und durch modernen amerikanischen Frau chinesischer Abstammung gegen
den Strich gehen mußte.
Ich wollte noch mehr von ihr wissen,
aber da erschien die Empfangsdame mit ärgerlich hochgezogener Augenbraue unter
der Tür. »Marcy«, sagte sie, »würden Sie bitte den Hörer wieder auflegen? Der Drucker hat jetzt schon dreimal angerufen.«
»Der Trottel! Ich habe ihm gesagt —«
Sie unterbrach sich und nahm mir die Mappe aus der Hand. »Hören Sie, wenn ich
Ihnen verspreche, ihn wieder aufzulegen, machen Sie mir dann Kopien von diesen
Blättern?«
»Das ist ein Geschäft.« Die Frau nahm
die Mappe und verschwand den Gang hinunter.
Marcy machte keine Bewegung in Richtung
Telefonhörer. Als sie meinen fragenden Blick sah, sagte sie: »Nicht, bevor sie mit
Ihren Kopien zurück ist.«
»Es tut mir wirklich leid, daß ich
Ihnen soviel von Ihrer Zeit gestohlen habe, wo Sie derart mit Arbeit überhäuft
sind.« Und dann fiel mir ein, wie ich ihr einen Gefallen tun konnte — der auch
für mich von Nutzen wäre. »Marcy«, sagte ich, »was halten Sie davon, wenn ich
das Interview mit Lionel Ong für Sie mache? Ich interviewe täglich Leute, und
ich bin ganz gut darin. Sie haben doch sicher eine Liste mit Fragen
vorbereitet?«
Sie sah mich überrascht, aber dem
Gedanken durchaus aufgeschlossen, an. »Hm. Und wie gesagt, es muß auf Band
aufgenommen werden. Sie müßten es nicht einmal übertragen. Außerdem könnten sie
die schlimmste Interviewerin der Welt sein, Sie wären immer noch um einiges
besser als mein früherer Assistent.«
»Haben Sie schon einen Termin mit Ong?«
»Morgen nachmittag vier Uhr bei ihm zu
Hause.«
»Also, wie wär’s?«
»Warum nicht? Ich bekäme etwas mehr
Luft auf meinem Terminkalender.«
»Hätten Sie etwas dagegen, wenn ich
noch ein paar eigene Fragen dranhänge?«
Ȇberhaupt nicht. Wenn es Material ist,
das ich verwenden kann, nehme ich es. Sonst streiche ich es raus.« Sie zögerte.
»Noch zwei Dinge: Ich möchte auf keinen Fall, daß mein Boss erfährt, wie frei
ich über Ong geredet habe. Oder daß Sie etwas anderes sind als eine professionelle
Interviewerin, die mir einen Gefallen tut.«
»Klar.«
»Denken Sie dran, sich in acht zu
nehmen. Lionel Ong wäre ein schrecklicher Feind.«
12
Ich verließ die Sino-American Alliance,
wanderte die Gasse an dem Gebäude entlang und setzte mich unter einen
Sonnenschirm vor dem kleinen Café. Zu den gedämpften Muscheln hätte ich mir
gern
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