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Niemandsland

Niemandsland

Titel: Niemandsland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcia Muller
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leserliche
Schrift begleitete sie mit der Zungenspitze zwischen den Zähnen. Als sie mich
sah, legte sie den Stift nieder und seufzte erleichtert. »Ich hatte nicht
gedacht, daß du heute nachmittag noch einmal herkommst. Darum wollte ich gerade
einen Bericht aufsetzen«, sagte sie. »Aber jetzt können wir direkt miteinander
reden.«
    Ich ging auf den schäbigen Lehnsessel
zu, den sie von mir geerbt hatte (selbst den hatte sie mit einem blauweißen
Bezug aufgemöbelt), aber sie hielt mich zurück. »Nein — ich bekomme
klaustrophobische Gefühle hier. Außerdem kannst du sicher ein Glas Wein
vertragen, bevor du deine Mutter abholen mußt.«
    Ich sah auf die Uhr. »Meine Mutter
abholen und sie samt Dessert zu George bringen. Aber ich habe noch ein bißchen
Zeit, also gehen wir.«
    Wir gingen in die große, altmodische
Küche auf der Rückseite des Hauses. Rae holte zwei Gläser aus dem Schrank,
während ich eine Karaffe Chablis in dem überfüllten Kühlschrank entdeckte. Wir
setzten uns an den runden Eichentisch am Fenster. Ich legte meine Füße auf
einen Stuhl und fragte: »Was hast du also gerade in deinen Bericht
geschrieben?«
    Raes Gesicht leuchtete triumphierend
auf, wie immer, wenn sie einen Ermittlungscoup gelandet hatte. »Das
Straßenverkehrsamt hat einen frischen Strafzettel für Earl Hopwood im
Register.«
    »Großartig! Wo und wann?«
    »Hier in der City — Ecke Clay und
Sansome. Gestern vor einem Monat — verbotenes Linksabbiegen.«
    Die Kreuzung Clay und Sansome liegt im
Finanzdistrikt, ganz in der Nähe der Stelle, wo ich gerade gewesen war.
    »Was meinst du dazu?« fragte Rae.
    »Ich meine, du hast gute Arbeit
geleistet. Sieh zu, daß du jetzt der Tochter auf die Spur kommst. Prüf die standesamtlichen
Unterlagen über Eheschließungen und Scheidungen — es heißt, sie war dreimal
verheiratet. Vielleicht haben die kalifornischen Staatsbehörden eine aktuelle
Adresse von ihr — oder die Ehemaligengruppe ihrer Schule.«
    Rae wirkte ein wenig enttäuscht. Sie
hatte die Sache mit Hopwoods Strafmandat wohl für wichtiger gehalten, als sie
war. Aber der Finanzdistrikt ist groß. Er konnte eines der zahllosen Büros
besucht haben oder auch nur durchgefahren sein.
    Rae trank einen Schluck Wein und
fragte: »Hast du Zeit, mir von dem Fall zu erzählen?«
    »In kurzen Worten, ja.«
    Während ich sprach, nickte sie in
regelmäßigen Abständen und legte dann ihr Gesicht in Konzentrationsfalten. »Da
paßt nichts zueinander«, sagte sie.
    »Bisher nicht.« Ich sah wieder auf die
Uhr. Es war kurz vor fünf. »Ich sollte jetzt besser gehen, wenn ich den Kuchen
noch besorgen will, bevor ich Ma abhole.«
    »Kaufst du ihn bei Elena’s?«
    »Ja. Schokoladenkuchen, für den könnte
ich gleich zweimal sterben.«
    Rae rollte mit den Augen. »Sie wird ihn
genießen!«
    »Das würde ich ihr auch raten«, sagte
ich — ein bißchen grimmig.
    »Heute morgen hast du gesagt, du freust
dich auf das Dinner.«
    »Mas Besuch gehört zu den Ereignissen,
die ihren Reiz verlieren, je näher sie heranrücken. Die Vorfreude war groß;
seit der Countdown läuft, sehe ich nur noch zu, daß ich den Besuch überlebe,
das ist alles.«

13
     
    »Dein Freund gehört wohl zur Gattung
der Bergziegen, daß man so viele Stufen bis zu seiner Wohnung steigen muß«,
brummte meine Mutter.
    Ich biß die Zähne zusammen und
kletterte verbissen. Ihre Bemerkung ignorierte ich. Dafür hielt ich den
Einkaufsbeutel mit dem Wein und Elenas wunderbarem Kuchen fest umklammert.
    »Wie kommen alte Leute wie ich nur in
diese Wohnungen hinauf? Oder lassen sie hier keine Senioren rein?«
    »Alte Menschen, die auf dem Russian
Hill wohnen, sind voll in Form, und zwar wegen der vielen Kletterei.«
    »Hmpf«, lautete Mas einziger Kommentar.
    Die Beschwerde über die vielen Stufen
zu Georges Haus — sechsunddreißig insgesamt; ich hatte sie mal gezählt, als wir
eine schwere Ladung Lebensmittel hinaufzuschleppen hatten — war ihr erster
Satz, seit ich sie von der Greyhound-Station abgeholt hatte. Sie war
ungewöhnlich still gewesen, als ich sie zu meinem Haus fuhr, sie ins
Gästezimmer führte und sie mit Ralph und Allie bekannt machte — ein Benehmen,
das mich wachsamer werden ließ, als wenn sie darauf herumgeritten wäre, daß ich
sie fünf Minuten hatte warten lassen.
    Wir kamen am oberen Ende der breiten
Treppe an, und Ma blieb stehen und sah sich auf dem Innenhof um. Das weiße
Gebäude im mediterranen Stil ruhte auf einer verstärkten Betonmauer hoch

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