Niemandsland
nicht vorstellen -«
Ich griff in meine Jackentasche und
holte ein ziemlich sauberes Papiertaschentuch hervor.
»Oh, danke. Ich bin so eine Schlampe.
Wissen Sie, ich war auf der J-School — Journalismus — an der Northwestern, und
die ganze Zeit habe ich mir ausgemalt, wie ich im Weißen Haus auf einer
Pressekonferenz in einer ganz tollen Aufmachung ganz toll penetrante Fragen in
den Raum rufe. Statt dessen lande ich hier in Jeans auf dem Fußboden meines
lausigen Büros und sitze bis zu den Knien in schmieriger Tomatensauce.«
»Machen Sie sich nichts daraus: Ich
habe in Berkeley Soziologie studiert und davon geträumt, großartige
Untersuchungen zu machen, die der Menschheit helfen. Statt dessen verfolge ich
jetzt die Spuren von Verbrechen. Und einmal schoß mir dabei jemand in den
Hintern.«
Marcy hörte auf, sich die Hand
abzuputzen und starrte mich sichtlich fasziniert an. »Wirklich? Das muß ja
höllisch weh getan haben.«
»Und peinlich war es außerdem, wie Sie
sich vorstellen können.«
»Trotzdem muß Ihr Job doch sehr
befriedigend sein. Ich meine, Sie sind doch irgendwie ständig mit wichtigen
Ermittlungen befaßt.«
Ich zuckte mit den Schultern. Zu
Zeiten, in denen ich mich obenauf fühle, neige ich dazu, meine Arbeit zu
romantisieren — und wenn ich auf dem Bauch liege, finde ich die Erinnerung
daran demütigend. Außerdem habe ich dann oft den trostlosen Eindruck, daß ich
nichts anderes tue, als kleine Scharmützel in einem weltweiten Krieg zu führen,
die ich dann auch noch meistens verliere.
Marcy Cheung sagte: »Um auf unser Thema
zurückzukommen — wenn man Lionel Ong verstehen will, muß man die Geldelite von
Hongkong verstehen. Kennen Sie sich da aus?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Vor allem sind sie alle, bis auf ein
paar Patriarchen, relativ jung — mit fünfundvierzig an der Spitze. Und sie
kontrollieren Milliardenbeträge. Außerdem sind sie hervorragend ausgebildet.
Die reichen Hongkonger Familien schicken ihre Söhne und Töchter auf die besten
Colleges und Business Schools in den USA — nach Harvard, Wharton, M. I.T.,
Stanford, Michigan — und übertragen ihnen dann ihre Geschäfte in den Staaten.«
»Was für Geschäfte meinen Sie?«
»Grundstücksgeschäfte en gros. Hier in
der Innenstadt gehört ihnen rund ein Zehntel. Dann sind sie noch in
Parkhäusern, Hotels und in der Bekleidungsbranche engagiert. Neuerdings nimmt
die Zahl der Banken in chinesischem Besitz zu. Restaurants spielen keine große
Rolle.« Sie lächelte. »Zu riskant und keine Basis für größere
Geldtransaktionen. Zudem scheuen diese Leute vor Klischees zurück.«
»Sie sind derzeit die wirklichen Macher
und Schaffer in San Franciscos Finanzwelt«, fuhr sie fort. »Sie haben sehr gute
politische Beziehungen und großen Einfluß auf den Stadtrat und das
Staatsparlament. Und sie können zähe Gegner sein.«
»Zum Beispiel?«
»Haben Sie schon einmal von Sun Tzus Die Kunst der Kriegführung gehört?«
»Nein.«
»Also, das ist ein
zweitausendfünfhundert Jahre alter Klassiker der Militärphilosophie. Es gibt
einen Insiderwitz, daß die Hongkonger Geschäftswelt ihre Strategien nach ihm
ausrichtet. Aber niemand lacht wirklich darüber. Sagen wir es so: Es sind
Leute, die nicht gern verlieren — in keinem Spiel.«
Ich dachte an die Löcher in Mick
Ericksons Brust und an die bewaffneten chinesischen Wächter in der Mesa über
dem Stone Valley. »Wie weit würden sie gehen, nur um nicht zu verlieren?«
»Das hängt von jedem einzelnen ab.«
»Und wenn dieser einzelne Lionel Ong
wäre?«
Sie dachte nach. »Der würde wohl
wirklich sehr weit gehen.«
»Erzählen Sie mir mehr von ihm. Ich
weiß, die Fakten stehen da in der Mappe, aber ich brauche auch ganz subjektive
Eindrücke.«
»So, wie Sie über Hongkongs Geldelite
Bescheid wissen müssen, um ihn zu verstehen, müssen Sie auch über die
Ong-Familie Bescheid wissen. Sie ist rücksichts- und skrupellos. In der
Vergangenheit hat sie viele Verluste und viele Tragödien hinnehmen müssen. Nach
meinen Recherchen« — sie zeigte auf die Mappe — »kam sie in den Dreißigern aus
der Provinz Guangdong in Südchina nach Hongkong. Das war während der
japanischen Besetzung. Ich kenne nicht alle Einzelheiten, aber ein paar Kinder
starben ihnen, und die Mutter — Lionels Großmutter — wurde beim Übertreten der
Grenze erschossen. In Hongkong angekommen, wurde der Großvater zu einem
unnachgiebigen Mann. In weniger als einer Generation wurden er und
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