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Nietzsche und Wagner: Geschichte einer Hassliebe

Nietzsche und Wagner: Geschichte einer Hassliebe

Titel: Nietzsche und Wagner: Geschichte einer Hassliebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kerstin Decker
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schließlich bis nach Heidelberg. Die Reiseroute wirkt ein wenig wie Bummelei, doch er würde noch früh genug Professor werden, und was spricht dagegen, in Heidelberg unter der Schlossruine an seiner Antrittsvorlesung zu arbeiten? Und dann weiter, direkt hinunter nach Basel, das ist der Plan, aber dann wird es laut im Coupé.
    Kurz vor Karlsruhe steigen junge Männer zu; noch will kein Mensch zum Fußball, noch wollen alle in die Oper. In die »Meistersinger«! Er selbst hatte sie noch im Januar, in Dresden, zum ersten Mal ganz gehört, obwohl er jede Minute an seine Dissertation wenden wollte. Aber was zählt eine Dissertations-Minute gegen eine »Meistersinger«-Minute? Gar nichts, hatte er sich gesagt, und war losgefahren.
    Auch jetzt hat er nicht viel Zeit zu überlegen. Ist er nicht viel berufener als seine Mitreisenden, die »Meistersinger« zu hören? Wäre das nicht ein guter Beginn seines neuen Lebens? Es wäre ein guter Beginn, beschließt er, steigt in Karlsruhe aus und lässt die Gültigkeit seiner Fahrkarte um einen Tag verlängern.
    Er nennt die Karlsruher »Meistersinger« eine vortreffliche Aufführung, nimmt Abschied von deutschem Boden, bezieht in Basel zuerst einen Gasthof, dann eine erschütternd hässliche Wohnung, die jedoch nur ein Provisorium sein soll, und denkt mit Schrecken an die rund 60 Visiten, die ihm als Neuberufenem bevorstehen.
    Er erfährt, dass seine Kollegien immer morgens um sieben Uhr beginnen, auch das über griechische Lyrik, dabei ist kein Mensch, kein Gott ein Dichter morgens um sieben Uhr. Er hat sieben Hörer, darunter ein Theologe – mehr Philologiestudenten gibt es in Basel nicht. Jeden Montag hält er ein Seminar, dazu täglich ein bis zwei Schulstunden am Pädagogium und seufzt: Was gäbe ich drum, wieder Schüler zu sein!
    *
    Wiesen. Bauernhöfe. Kühe. Dann eine kleine villenbestandene Anhöhe und nun gar nichts mehr, nur ein schmaler Weg. Soll er ihn gehen?
    Vier Jungakademiker auf Pfingstexkursion haben den Frühzug von Basel genommen, sie wollen zur Tellsplatte. Aber das Dampfschiff fährt noch nicht. Es gibt nichts Unverfänglicheres als einen Durchreisenden. Es gibt nichts Unverbindlicheres als nachzuschauen, ob auch dieser Weg ein Ende hat. Weg und Wasser, es ist eine Landzunge, und dann, an ihrem Ende: das Haus, verborgen zwischen hohen Bäumen. Weltverlorener kann man nicht wohnen. Vom Bahnhof Luzern braucht er eine halbe Stunde. Und doch, welcher Weltaufgang, als er ans Ufer tritt: vor ihm der große See, gegenüber sanftes Land, dahinter die schroffen und düsteren Felswände des Rigi, rechts der Pilatus, links die Stadt. Und im Hintergrund die Gotthardspitzen, der vereiste Uri-Rotstock und was der Höhen ewiger Menschenleere mehr sind. Dieser Anblick macht groß. Dieser Anblick macht klein.
    Durchreisende haben gewöhnlich wenig Zeit und wenig Sinn für die Ewigkeit, aber er bleibt lange stehen vor dem schönen schmalen Haus mit seinen zwei Stockwerken und dem schon jetzt altmodisch hohen Dach, das sein Hauptmieter gerade deshalb liebt. Doch es ist nicht nur dieser Weltfrieden am Vierwaldstätter See, der den Professor an jeder Bewegung hindert, es ist ein Akkord, immer derselbe, ein tiefer schmerzlicher Akkord, der alles einhüllt, See, Haus, Rigi und Pilatus.
    Der Hausherr arbeitet. Er komponiert Brünnhildes Erweckung durch Siegfried: »Verwundet hat mich, der mich erweckt«.
    Richard Wagner hatte die Arbeit am »Ring« einst an dieser Stelle abgebrochen und gedacht: Wie gut werde ich es haben, gerade hier weitermachen zu dürfen! Denn es ist ein Doppelaffekt, Sieg und Niederlage, Leben und Tod in eins: So von einem Mann befreit und erobert zugleich, ist Wotans Lieblingstochter nicht mehr, was sie war. Vor allem nicht mehr göttlich, sondern ganz Weib: Beute. – Wer sollte dem Töne finden? Er, Wagner, ist der Komponist der Doppelaffekte.
    Wie gut werde ich es haben, hier weitermachen zu dürfen. Er ist sich da längst nicht mehr sicher. Denn das dachte er vor zwölf Jahren. Damals hatte er auch noch geglaubt, alle Probleme des »Ring« seien gelöst. Was noch übrig bliebe, sei die Freude des Gelingens. Jetzt ist er zwölf Jahre weiser.
    Freude? Gelingen? Er spürte Zweifel, ja Abneigung gegen das Riesenwerk, aus dem er schon einmal emigriert war. Würde das Vorhandene standhalten? Würde er wieder in die Arbeit hineinfinden? Freunde Wagners werden Cosima bald erklären, dass er ohne ihren Beistand nie wieder zu diesem Werk zurückgekehrt wäre. Er

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