Wille zur Macht
Frühjahr 1985
„Das ist hier kein pseudodemokratisches Gremium! Wir tragen die Verantwortung dafür, dass die Brigaden so zusammengestellt werden, dass sie vor Ort ihre Arbeit im Sinne der internationalen Solidarität erfolgreich durchführen können. Wir kennen die Verhältnisse vor Ort. Ihr nicht! Deshalb treffen wir die Entscheidung, wer fährt und wer nicht!“
Mit diesen markigen Worten beendete Thomas M. von seinem Podest aus eine gerade aufkeimende Diskussion. Die beiden Männer und die Frau, die neben ihm saßen, nickten zustimmend.
Ein Raunen ging durch den Raum. Autoritäres Gehabe war allen Anwesenden ein Gräuel. Viele der Frauen und Männer im Saal des alternativen Kulturzentrums im Hamburger Schanzenviertel hatten schon eine Reihe negativer Erfahrungen mit den sogenannten Autoritäten in Deutschland gemacht. Sie hatten schon immer und bei vielen Gelegenheiten grunddemokratische Strukturen in der politischen Auseinandersetzung in Deutschland eingefordert. Blinde Unterordnung war ihnen zuwider. Sie waren daran gewöhnt, dass Entscheidungen begründet und diskutiert wurden.
„Die Betroffenen an der Diskussion zu beteiligen, würde eine objektive Entscheidung im Sinne der Sache verhindern“, fuhr Thomas M. fort und wurde wieder ruhiger. „Darum haben wir uns entschlossen, eine demokratische Entscheidung nur in unserem Gremium herbeizuführen. So wird es auch von der Sandinistischen Befreiungsfront erwartet, um zu verhindern, dass über uns Konterrevolutionäre ins Land geschleust werden. Das habt ihr zu akzeptieren!“
Christian Dunker saß inmitten der Zuhörer und hatte nicht geraunt. Er fühlte sich nicht in der Lage, Entscheidungen darüber zu treffen, wer der Brigade angehören sollte oder nicht. Wenn sie ihn nicht auswählen sollten, wäre das auch nicht so schlimm für ihn. Dann machte er eben in Deutschland seine Solidaritätsarbeit weiter. Vielleicht klappte es dann ja später einmal. Er würde es auf jeden Fall wieder versuchen.
Denn hier wollte er nicht bleiben. Er hoffte in Nicaragua eine neue Aufgabe für sich zu finden. Schließlich war er Lehrer. Zumindest beinahe. Denn zum Referendariat war er nicht zugelassen worden. Die Bildungsbehörde zweifelte sein Eintreten für die freiheitlich-demokratische Grundordnung an.
Er, der seit Jahren dafür gekämpft hatte, dass die Buchstaben des Grundgesetzes in die Wirklichkeit umgesetzt wurden, war plötzlich zum Staatsfeind erklärt worden. Weil die Würde des Menschen für ihn weiter reichte, als nur bis an den Rand eines Stammtisches. Nur weil ihm die Verpflichtung des Eigentums mehr bedeutete, als Fabriken zu bauen und Arbeiter zu knechten. Der Gegensatz von Kapital und Arbeit war für ihn eine Erfahrung, kein intellektuelles Geschwafel. Als die milliardenschwer mit Steuergeldern subventionierte Atomindustrie ihren gefährlichen Dreck nicht anders loswerden konnte, als ihn in einem stillgelegten Salzbergwerk unter die Menschen zu bringen, da entschloss auch er sich zum aktiven Widerstand. In der Nähe von Gorleben blockierte er damals zusammen mit Dorfbewohnern und einem Heuwagen eine Straße. Die Menschen aus dem angrenzenden Dorf hatten darauf bestanden, dass die Straßenblockade unbedingt passiv und friedlich verlaufen sollte. Das war die Bedingung für ihre Beteiligung. Sie wollten keine Gewalt. Und das wurde absolut eingehalten.
Die Polizei war sowieso eindeutig in der Übermacht. Sie hätten jeden der wenigen Demonstranten mit drei oder vier Beamten gleichzeitig wegtragen können. Aber das taten sie nicht. Als sie mit erhobenen Knüppeln johlend losstürmten, erschreckten sich die Menschen so sehr, dass sie sofort aufsprangen und davonrannten. Auch Christian Dunker wollte sich schnellstens davonmachen, aber er hielt inne, als er sah, wie neben ihm eine alte Frau aus dem Dorf hinfiel. Er wollte ihr aufhelfen, aber als die Polizisten sie erreichten, legte er sich nur noch schützend über sie. Mehrere Beamte prügelten auf ihn ein. Trotz der Schmerzen war seine größte Sorge, dass die alte Frau unter ihm ersticken könnte.
Als sie von ihm abließen, rutschte er langsam von der zitternden Frau. Jetzt war sie es, die ihm aufhelfen musste. Seine Beine schmerzten so sehr, dass er kaum laufen konnte. Ihm rann Blut übers Gesicht.
„Erst die Nazis und jetzt das!“ sagte die alte Frau und schob ihn von der Straße herunter in einen Feldweg, während mit einem lauten Krachen ein Sonderwagen der Polizei gegen den
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