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Nietzsche und Wagner: Geschichte einer Hassliebe

Nietzsche und Wagner: Geschichte einer Hassliebe

Titel: Nietzsche und Wagner: Geschichte einer Hassliebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kerstin Decker
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wird es ihr ja selbst immer wieder bekennen: »Nichts, nicht einen Ton hätte ich mehr von mir gegeben, wenn ich dich nicht gefunden hätte. Jetzt habe ich ein Leben.« 70
    Es geht schwer, manchmal leichter. Es wird.
    Nein, nicht nur für den Gast vorm Haus hat der Februar Unerhörtes gebracht. Richard Wagner komponiert weiter.
    Als Siegfried Brünnhilde erweckt, fühlt der Unverwundbare zum ersten Mal, was er noch nie gefühlt hat: eine große Beklommenheit. Dem Gast vorm Haus geht es nicht anders. »Verwundet hat mich, der mich erweckt.« Auch er ist befreit und erobert zugleich; ja, mehr noch: Enthält dieser Akkord bereits das ganze Schicksal ihrer Begegnung?
    Lust und Schmerz, Sieg und Niederlage, Leben und Tod – nicht nacheinander, sondern in eins. Wenn Wagner der Komponist dieses Doppelakkordes ist – Friedrich Nietzsche wird sein Denker werden, denn in dieser Zerreißung ist er sich selbst begegnet.
    Er bleibt unbemerkt.
    Wagners Pfauen Wotan und Fricka sind taktvoll genug, die gerade erwachende Brünnhilde nicht durch ihre spitzen Schreie zu stören. Oder sie haben Angst vor Russ, dem schwarzen Neufundländer, der Wotan schon einmal hinten ganz nackt gemacht hat. Keine einzige der schönen langen Schwanzfedern ließ er dran; der Pfau schrie um Hilfe, Wagner schrie um Hilfe; Wotan schlug kein Rad mehr, genau wie der andere im Drama des Hausherrn beim jetzigen Stand der dramatisch-musikalischen Dinge. Und auch Fricka hätte beinahe alle ihre Eier verloren, wäre der Hausherr nicht nachts um zwei mit einem großen Stock gekommen, um das Nest gegen alle Feinde zu verteidigen, und man weiß, wie wenig Richard Wagner für die Frickas dieser Erde übrig hat.
    Aber jetzt: Kein Wotan-, kein Russ-Laut. Und welches Recht hätte er, Professor Friedrich Nietzsche, diesen Klang zu unterbrechen? Vielleicht ist es diese Scheu, die ihn zögern lässt. Und das Empfinden, wie sicher hier ein Haus einen Menschen umgibt, der es, nicht minder sicher, ganz ausfüllt. Er ist noch immer unbemerkt. Soll er umkehren?
    Friedrich Nietzsche kann nicht wissen, dass dieses Haus, dieses Sinnbild der Befriedung eines Daseins, in Wahrheit das Andenken einer großen Demütigung ist, einer Niederlage ohnegleichen. Ja, es ist das Mahnmal einer Vertreibung, der letzten bisher im Leben Richard Wagners, des »Vielverschlagenen«, wie ein mit Pathos begabter Biograph ihn nannte.

Ludwig II. von Bayern,
1867, zwei Jahre nach dem
»Tristan«-Sommer.
    Der König befiehlt eine Vollbremsung
    Am 1. Juli 1865 befahl der König eine Vollbremsung. Der Sonderzug stand, die Herzen der Sekretäre und Hofleute standen auch, beinahe. Was war geschehen? Der junge König – wurde er nicht von Aufführung zu Aufführung schöner? – verließ mit vollendeter Grandezza seinen Waggon. Er brauche Luft, frische Luft!, sprach er, schritt den Zug ab und stieg vorn wieder ein. In die Lokomotive! Zum Heizer! Frische Luft? Freie Fahrt für freie Könige! Auch Friedrich Nietzsche dachte damals gerade über die Freiheit nach und war zu der Erkenntnis gekommen, dass die Freiheit eine große Täuscherin sei: Der Mensch muß Zwang haben, um die Freiheit in wenigen dem Augenblick geraubten Zügen schlürfen zu können. 71
    Und ebendas hatte der König vor. Ludwig war glücklich. Drei Mal schon hatte er den »Tristan« gehört und dabei ähnliche Symptome gezeigt wie der um fast ein Jahr ältere Leipziger Student. Die Vorfreude klang so: »Heute noch! wie ertrage ich die Wonne? Ewig treu, ewig liebend Ludwig.« 72 Das Ergebnis vom selben Tag klang so: » EINZIGER ! – HEILIGER ! – Wie wonnevoll! – VOLLKOMMEN . So angegriffen vor Entzücken. – Ertrinken … Versinken – unbewußt – höchste Lust. – GÖTTLICHES Werk! – Ewig treu – bis über den Tod hinaus! –« 73
    Das war die entscheidende Korrektur. Bisher hatte der blutjunge Mann sich meist mit »Bis in den Tod!« verabschiedet, jetzt wusste er, hinter dieser Grenze fing alles erst an, er würde das künftig gebührend berücksichtigen. Aber nein, so kann man das unmöglich sagen, müsste Friedrich Nietzsche urteilen, er besitzt schon jetzt ein genaues Gefühl in diesen Dingen, andererseits: Ludwig verstand diese Musik sofort, im Gegensatz zu seiner Hofkapelle, die anfangs fassungslos in ihre Partituren geschaut hatte. Auch ist die Wendung »so angegriffen vor Entzücken« für einen Monarchen schon beinahe ungebührlich originell. Und so sehr dieser »Tristan« ihn auch strapazieren mochte, Ludwig konnte

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