Nietzsche und Wagner: Geschichte einer Hassliebe
Sokratismus zu fassen: »Alles muß bewußt sein, um schön zu sein« ist der euripideische Parallelsatz zu dem sokratischen: »Alles muß bewußt sein, um gut zu sein.« Euripides ist der Dichter des sokratischen Rationalismus.
Zu bemerken ist, dass Nietzsche Euripides das Griechentum abspricht, von Sokrates nicht zu reden.
Und erst vom Doppelstandpunkt Basel-Tribschen aus ist das nach so vielen Jahrhunderten überhaupt zu bemerken, genauer: Von dem unendlich vertieften germanischen Bewußtsein aus erscheint jener Sokratismus als eine völlig verkehrte Welt. Der Sauerkraut-Professor scheut jetzt nicht einmal vor einem Satz zurück wie Die Fanatiker der Logik sind unerträglich wie Wespen. Vielleicht hält er solch sorglose Derbheit für wagnerisch, doch sie sollte nicht über das hinwegtäuschen, was Nietzsche hier entdeckt hat: eine Art Ursprungszerreißung.
Sokrates gilt bis heute als Begründer des europäischen Sonderweges der Rationalität. Er ist nicht bloß irgendein Philosoph, er ist ein abendländischer Schicksalsmann. Der Erste, welcher sich selbst anstelle des Schicksals einsetzte, gewissermaßen der Urvater der Wissenschaft, Gewährsmann der europäischen Zivilisation. Doch schon Sokrates zahlte einen gewissen Preis. Eine Traumstimme rief immer wieder »Sokrates, treibe Musik!« in seine Nächte; wieder erwacht zu logisch-hellem Tagesbewusstsein beschloss er eine folgenreiche Ersetzung: Sollte seine Philosophie nicht viel mehr sein als jede Musik?
Bei allen produktiven, künstlerischen Naturen wirke das Unbewusste schöpferisch und affirmativ, während das Bewusstsein der große Kritiker und Kontrolleur sei. Bei Sokrates aber kehre sich dieses Verhältnis um: Bei ihm wird der Instinkt zum Kritiker, das Bewusstsein zum Schöpfer. Das aber sei die folgenreichste Instinktumkehr der Weltgeschichte. Und Nietzsche ernennt Sokrates zum Vorboten und Herold der Wissenschaft. Er versteht ihn als Symbol und weist darauf hin, dass der Sokratismus selbstredend viel älter sei als Sokrates selbst.
Und doch konnte es bald dahin kommen, dass des Sokrates gelehrigster Schüler Platon die Tragödie zu den »Schmeichelkünsten« zählte und ihr den Platz gleich neben der Putzkunst und der Kochkunst anwies.
Die Geburt der Wissenschaft ist die Geburt des Optimismus, der Machbarkeit. Und sie ist der Tod der ihrem Wesen nach tief pessimistischen Tragödie.
Friedrich Nietzsche beendete seinen Vortrag an der Baseler Universität so: Zum Schluß eine einzige Frage. Ist das Musikdrama wirklich todt? Soll der Germane wirklich jenem entschwundenen Kunstwerk der Vergangenheit nichts anderes zur Seite stellen als die »große Oper«, ungefähr wie neben Herkules der Affe zu erscheinen pflegt? Es ist dies die ernsteste Frage unserer Kunst: und wer als Germane den Ernst dieser Frage – an dieser Stelle brach der Vortragende jäh ab und verfiel in ein tiefes beredtes Schweigen, das Auditorium, das er nicht sehen konnte, zumindest nicht scharf, durch die dicken Gläser seiner Brille gleichwohl scharf ins Auge fassend. Die Tribschener lesen: … und wer als Germane den Ernst dieser Frage [+ + +]
Richard Wagner legt die »Götterdämmerung« beiseite, vergisst die drohende »Walküre« und schreibt sofort nach Basel: »Theuerster Herr Friedrich! Gestern Abend las ich der Freundin Ihre Abhandlung vor. Darnach hatte ich sie längere Zeit zu beruhigen … Ich für meinen Theil empfand zu meist einen Schreck über die Kühnheit, mit welcher Sie so kurz und kategorisch einem vermuthlich nicht eigentlich zur Bildung aufgelegten Publikum eine so neue Idee mittheilen …« 152 Zu hoffen sei für die heile Haut des Vortragenden eigentlich nur, dass keiner ihn verstanden habe. »Ich – für meine Person – rufe Ihnen zwar zu: so ist es!«
Der Verfall beginnt, wie Wagner längst undeutlich ahnte, also gar nicht erst mit Goethes Tod, sondern er ist gewissermaßen schon eingesenkt in die Fundamente unserer postsokratischen Kultur?
Was ist hier geschehen? Indem Nietzsche Sokrates und Platon als Säulenheilige enttarnt und entschlossen beiseiteräumt, ist gewissermaßen eine Schnellstraße eröffnet, die von den – eben vorsokratischen, vorplatonischen – Ursprüngen der europäischen Kultur direkt zu Richard Wagner und dem Kunstwerk der Zukunft führt. Der Meister hat das sehr gut verstanden. Darum ist ihm jetzt so schwindlig. Darum ist er so voller Befürchtungen für den Architekten: »Doch habe ich Sorge um Sie, und wünsche von ganzem
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