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Nietzsche und Wagner: Geschichte einer Hassliebe

Nietzsche und Wagner: Geschichte einer Hassliebe

Titel: Nietzsche und Wagner: Geschichte einer Hassliebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kerstin Decker
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Herzen, dass Sie sich nicht den Hals brechen sollen.«
    Wahrscheinlich hat die dreijährige Nietzschekennerin Eva Wagner recht: »War mal Herr Nützsche, gute Herr Nützsche, ging aufs Eis d i e Nützsche, Bein gebrochen« – welch Prophetie seiner akademischen Laufbahn, auch wenn Eva den Fortgang verklärt: »Johanna … gekommen, Herr Nützsche getöstet, Bein wieder angemacht.« 153 Johanna ist Evas Kindermädchen, und der Beinbruch war wohl nur ein Sturz auf dem Eis mit einem verstauchten Fuß als Folge. Hier konnte die Kinderfrau helfen. Wagner indes erwägt bereits Hals- und Beinbruch-Prophylaxe: »Deshalb möchte ich Ihnen rathen, diese sehr unglaublichen Ansichten nicht mehr in kurzen, durch fatale Rücksichten auf leichten Effekt es absehenden, Abhandlungen zu berühren, sondern, wenn Sie so tief – wie ich es erkenne – davon durchdrungen sind, sich zu einer größeren, umfassenderen Arbeit darüber sammelten. Dann werden Sie gewiss auch das richtige Wort für die göttlichen Irrthümer des Sokrates und Platon finden, welche so überwältigend schöpferischer Natur waren, dass wir, obwohl uns von ihnen bekehrend, sie doch anbeten müssen« 154
    Der letzte Satz und die beiden folgenden sind eine Mahnung an den Freund, mit den beiden Türstehern der abendländischen Kultur etwas ehrfürchtiger zu umzugehen – wie viele Abende haben Cosima und er noch zuletzt bei der Lektüre der Platonischen Dialoge verbracht! Und schon als ebenbürtiger Geburtssachverständiger – spezialisiert auf schwierige Zangengeburten der Form: Wie bringe ich einen Gedanken zur Welt? – müsste Sokrates ihm nah sein.
    »Überwältigend schöpferischer Natur« seien Sokrates und Platon gewesen, glaubt Wagner noch immer? Aber hat er, Friedrich Nietzsche, denn soeben nicht bewiesen, dass es sich um eine geradezu perverse Art des Schöpfertums handelt, das dem Versiegen des eigentlich Schöpferischen die Weichen stellte? Der Komponist hat auch das sehr gut verstanden, nur ist er der Meinung, man sollte beim Vorbeifahren vor den nunmehr gestürzten Göttern unbedingt den Hut ziehen. Er hat Erfahrung mit gestürzten Göttern, er ist auf ihrer Seite, siehe Wotan.
    An den letzten Abenden, bevor der Aufsatz des Freundes eintraf, haben Richard Wagner und Cosima etwas Unvordenkliches getan, oder richtiger, sie haben etwas unterlassen: Zum ersten Mal haben sie abends nicht gemeinsam gelesen. Zu »trübgemuth« (Cosima), angefasst von einer winterlichen Spontanseelenblässe. Die Sokratische Injektion zeigt Sofortwirkung. Schon am nächs ten Morgen, am 5. Februar, schickt Richard Wagner Siegfried in Begleitung »der kecksten und übermüthigsten Violinfigur auf den Rhein«, und der Abend bereits findet das Paar bei der Lektüre von Aristophanes’ »Fröschen«. Nietzsche hatte auch die »Frösche« gestreift, in denen Euripides selbst auftritt und sich der Diät rühmt, die die Tragödie erst wieder in Form, also zur Spielbarkeit gebracht habe. Nach den »Fröschen« wollen sie Euripides selbst lesen.
    Die Fernwirkungen von Nietzsches Sturz des Sokrates sind enorm. Ohne ihn keine Heidegger ’ sche Sei(y)ns-Geschichte, ohne ihn nicht Horkheimers und Adornos »Dialektik der Aufklärung«, keine französische Postmoderne usw.
    Cosima hat sich nach zweitägiger wiederholter Aufsatzlektüre so weit gefasst, dass sie versteht, inwiefern Herr Nüüützsche sich diese Respektlosigkeit leisten kann: »Mit der Bemerkung, daß an Sokrates alles symbolisch sei, haben Sie für mich den bedeutendsten Zug, das Eigenthümlichste dieser für uns noch so lebendigen Figur bezeichnet.« 155
    Was Nietzsche an Sokrates auszusetzen hat, verrät, sehr persönlich gehalten, auch ein Brief an Deussen, den einstigen Mitschüler aus Pforta, der sich gerade zu Schopenhauer bekehrt hat – und es auf diesem Wege noch sehr weit bringen wird –, weshalb ihn Nietzsche bereits jetzt zu den Unsrigen zählt und sehr Anteil nimmt: Wie erträgst Du die Einsamkeit? – Das Leben hat mit der Philosophie ganz und gar nichts zu tun – na bitte, das sagt Wagner doch – aber man wird wahrscheinlich die Philosophie wählen und lieben, die unsre Natur am meisten erklärt. Eine Umwandelung des Wesens durch Erkenntnis ist der gemeine Irrthum des Rationalismus, mit Sokrates an der Spitze . 156
    Rohde erfährt, dass sich sein Freund Schritt für Schritt einer Gesammtanschauung des griechischen Altertums nähere, die noch größeren Schrecken erregen wird als sein Vortrag. Dagegen habe

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