Nietzsche und Wagner: Geschichte einer Hassliebe
für den Pinscher, auch für das letzte Auge. Selbst Wotan muss mit nur einem regieren, aber was heißt regieren? »Die Walküre« ist schon Wotans Abdankung. Die wachsende Ohnmacht der Götter weist auf die Ermächtigung des Menschen. Richard Wagner erfährt, dass Kos und seinem Auge noch eine Frist bleiben.
Am Sonntag, dem 26. Juni 1870, findet Wotans Urenkel Siegmund in München seine Schwester Sieglinde, teilt ihr Bett und zieht Wotans Schwert aus der Weltesche. In Tribschen versinkt sein Schöpfer zur selben Zeit in den Anblick des kleinen räudigen Hundes. Er denkt über das Leben in seiner Primärgestalt nach, also in einer Verfassung, wie es niemals Schwerter aus Welteschen zieht. Preisgegebenes Dasein, wie letztlich alles Leben ist, egal ob das eigene oder das von Kos, dem Pinscher. Er sieht es so nackt, wie es ist: Chemie, genauer, chemische Auflösung. Und zwar in Anwesenheit des Aufzulösenden. Das Leben als Schmerz. Niemand kann das komponieren wie er. Und was ist das Leid eines Gottes gegen die Not der Kreatur?
Ob er ahnt, wie sehr Friedrich Nietzsche genau diesen Wagner liebt? So weltenthoben, so eingeinselt. Und wäre das Glück nicht schon immer als ein bevorzugter Bewohner von Alleinlagen erschienen, niemand wäre auf das Bild von den »glückseligen Inseln« verfallen. Nietzsche wird nicht nur einmal auf dieses Wort zurückkommen, wenn er sagen will, was Tribschen ihm war. Die einzige Heimat, die er je hatte. Etwas in ihm ahnt das schon jetzt.
Cosima notiert in diesen Tagen das schöne Wort »welt-entflohen«, es klingt heimatlich, und doch meint es keine Zuflucht, sondern eine Trostlosigkeit. Sie fand das Wort beim Anblick des nahen Grundstücks einer verlassenen Pension.
So nahe also liegen das Bergende und Preisgebende beieinander.
Hans Richter, der unglückliche »Rheingold«-Dirigent, trifft aus München ein, versehen mit der Selbstlegitimation, nicht den »Walküren«-Proben beigewohnt und den Ort des Geschehens rechtzeitig verlassen zu haben.
Auch am Montag kein Wort über den Vorfall des Vorabends. Doch am Abend bricht die Außenwelt mit Hilfe eines Telegrammes gewaltsam ein. Sie kennen den Absender nicht. Napoleon Komolatsch mit Namen. Napoleon Komolatsch? Der Vorname ist schon bedenklich genug, hegemonistischer kann man nicht heißen, aber dazu Komolatsch? Die Nachricht des unbekannten Sympathisanten meldet »grenzenlosen Jubel am Schluss des ersten Aktes« 176 . Mit Johannes Brahms, Franz Liszt, Camille Saint-Saëns und vielen anderen als Zeugen.
Nietzsche lässt Tribschen wissen, dass er der Versuchung München widerstanden habe, was dort mit großer Wärme vermerkt wird. Vielleicht hat er auch gar nicht gewollt. Erinnert er sich noch an Friedrich Nietzsche, den Großkritiker der »Walküre«? Die musikalische Aesthetik liegt im Argen: es fehlt ein Lessing, der ihre Grenzen gegenüber der Poesie absteckte. Nirgends fühlt man das deutlicher als bei dem sonderbaren Dichtercomponisten, dessen jüngstes Werk hier vor uns liegt. Der Kritiker äußert den Anfangsverdacht, dass alle Mängel der Wagner ’ schen Musik an diesem Werk in besonderem Maße zutage treten müssen. Und Friedrich Nietzsche, Jahn-Schüler, zweiundzwanzig Jahre alt, beugte sich über den Klavierauszug von Karl Klindworth: Das Vorspiel hat die Ueberschrift »Stürmisch«; dem Orchester kann unmöglich damit geheißen sein, stürmisch zu spielen; das wäre unordentlich, wild. Nicht das Orchester darf stürmisch sein, wohl aber die Composition. 177 Und so weiter. Der Kritiker gelangte zu dem Schluss, dass es sich bei der Überschrift um ein Programm handele, dass dem Zuhörer ein poetisches Bild vor die Seele zaubere. Sturm? Rad? Lokomotive? Und am Ende ist es, wie längst berichtet, weder Sturm, Rad noch Lokomotive, sondern Siegmund auf der Flucht. Der Autor lächelte mit wohldosierter akademischer Herablassung durch die Zeilen. Mag sein, Friedrich Nietzsche hätte das alles doch gern überprüft, aber selbst wenn er gewollt hätte: Er hätte doch nicht fahren können, denn er liegt ungefähr seit der »Walküren«-Premiere mit einem »verrenkten« Fuß im Bett, teilt aber allen, die es wissen wollen, mit, dass er vom 15. Juli bis zum 15. August verreise. Er wisse bloß noch nicht wohin. Das braucht er auch nicht. Die Pläne für den Sommer macht längst ein anderer.
An der Vorbereitung des Stücks, das alle anderen Stücke in den Schatten stellen wird, selbst vom Meister nichtautorisierte Nibelungenfestspiele in
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