Nietzsche und Wagner: Geschichte einer Hassliebe
Tribschener selbst Entbindungszeugen werden, aber Cosima zögert. Sie will nicht reisen, scheut jede Öffentlichkeit. »Vielleicht ist es uns zum Sokrates möglich«, tröstet sie den Professor. Aber dann kommen sie auch zum »Sokrates« nicht, denn ohne seine Frau fährt Wagner nicht, also kommt Sokrates Anfang Februar schriftlich zu ihnen und löst eine Wirkung aus, die akademische Vorträge nur ganz selten erzielen: Ungläubiges Erstaunen! Tiefe Verwirrung! Bestürzung! Betroffenheit! Begeisterung!
Im Grunde ist man auf Tribschen immer mit Ursprungsfragen befasst, und auch die schon etwas in die Jahre gekommene Schrift des Hausherrn »Oper und Drama« ist eine große Untersuchung derselben. Sie sind also mehr als vorbereitet, und doch ist es, als entstünde die Welt noch einmal vor ihnen. Und eben: irgendwie falsch.
Wir wagen an dieser Stelle, die Aussagen des Professors ein wenig zusammenzufassen, schon um die Folgerichtigkeiten nicht aus den Augen zu verlieren.
Ausgangspunkt ist die griechische Tragödie, gewissermaßen der paradiesische Zustand, eine uranfängliche griechische Vollkommenheit, in dem der Mensch, seine Kunst und Religion und Lebensform noch eins waren oder vielmehr: in der sie sich jenes Noch-Einsseins versichern durften. Und nun zerbrach dieser große Spiegel des Menschseins, genauer: Die Tragödie endete tragisch. Ohne wohlgeratene Kinder zu hinterlassen, die größer und schöner ihren Platz einnehmen durften. Nein, es blieb nur eine große Leere und eine ebensolche Sehnsucht nach der Verblichenen. Aristophanes, auch er schon ein Hinterbliebener der Tragödie, habe eine innig-heiße Sehnsucht nach ihr bekannt, und damit wir uns das besser vorstellen können, konkretisiert der Professor: wie wenn jemanden ein plötzlicher starker Appetit nach Sauerkraut anwandelt. 151
Aber die Tragödie blieb tot. Es gab kein hellenisches Sauerkraut mehr. Da hob eine hässliche Tochter der Verstorbenen das Haupt; die Züge der Mutter waren noch erkennbar, aber entstellt, verzerrt. Dies nun sei, erklärt Nietzsches Aufsatz den Tribschenern, wie er selbst es vorher an der Universität dargelegt hatte, die »neue attische Comödie«, verantwortlich und schuldig: Euripides.
Euripides habe den Zuschauer auf die Bühne gebracht. Was Nietzsche meint, ist klar: In der attischen Komödie sieht das Volk sich selbst beim Volksein zu. Wir Späteren haben dafür das Fernsehen. Die Programme erklären sich aus dem Umstand, dass alles geschehen darf, nur eines niemals: Nie darf das Volk in den Ruf ausbrechen: Das bin ja gar nicht ich! So entstehen Spiralen abwärts, im Massenfernsehen wie im griechischen Theater. Vor Euripides waren es heroisch gestimmte Menschen, denen man die Abkunft von den Göttern und Halbgöttern der ältesten Tragödie sofort anmerkte. Nun wurde der Spiegel treuer und damit gemeiner. Kurz, das bürgerliche Lustspiel im attischen Gewand war geboren: Für diese neuere Komödie ist Euripides gewissermaßen der Chorlehrer geworden.
Welch herausragende Rolle der Chor schon bei Wagner und nun in Nietzsches Ästhetik der griechischen Tragödie spielt, wird noch zu bemerken sein; halten wir fest: Am Anfang war Chor, und sonst gar nichts. Euripides nun ist aber ein Chorlehrer nach dem Ende des Chores: denn diesmal musste der Chor der Zuhörer eingeübt werden. Sobald diese euripideisch singen konnten, begann das Drama der verschuldeten jungen Herren, der leichtsinnig-gutmüthigen Alten, der Kotzebueschen Hetären, der prometheischen Haussklaven.
Bis zu diesem Punkt dürfen die Tribschener eigene Gewissheiten auf angenehme Weise grundiert sehen oder in schärferem Relief erblicken, es besteht jedoch kein Grund zur geistigen Erregung, und das bleibt wohl auch so, während Nietzsche mehrere Seiten lang die Ästhetik des Euripides kritisiert – der erste Dramatiker, der einer bewußten Aesthetik folgt –, und dennoch versucht, den Autor in beinahe schon auffälliger Weise zu schonen, ja, ihn zum überaus seltenen, eigentlich unmöglichen Prototyp eines miserabel-großartigen Künstlers zu erklären, genauer: als Künstler miserabel, als Mensch großartig – was für ein Mann! Das ist nur möglich, weil für Nietzsche in Wahrheit immer ein anderer schuld ist, wenn Euripides schuld ist: Sokrates!
Im alten Athen, sagt Nietzsche, war die Meinung sehr verbreitet, dass Sokrates Euripides beim Dichten half. Und in der Tat, Euripides’ fast ungriechischer Kunstcharakter ist am kürzesten unter dem Begriff
Weitere Kostenlose Bücher