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Nietzsche und Wagner: Geschichte einer Hassliebe

Nietzsche und Wagner: Geschichte einer Hassliebe

Titel: Nietzsche und Wagner: Geschichte einer Hassliebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kerstin Decker
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Eindruck«, notiert Cosima.
    Wie viel Unfriede liegt hinter ihnen. Und nun ist stille Nacht überm Vierwaldstätter See, alle Kinder sind bei ihnen, alle, den Neuankömmling dieses Jahres ausdrücklich mitgezählt. Wer käme jetzt in diesem Weihnachtsfrieden auf die Idee, dass Feste Triebe voraussetzen? Die Anwesenden unter Genellis Dionysos-Apollon-Bild ausgenommen.
    Das potentielle Selbstmörderpaar schaut beinahe zuversichtlich in die Zukunft. Schon seit Monaten hat der Hausherr Cosima nicht mehr gesagt, er könne verstehen, wenn ihr das Leben zu schwer würde. Sie könne auf ihn rechnen. Er würde ihr folgen. Cosima betrachtet es inzwischen als größte »Errungenschaft ihrer Seele«, nicht mehr sterben zu wollen. Und Richard Wagner registriert neuerdings nicht ganz so beiläufig wie andere Leute, wenn er im Durchzug steht: »Wie soll man denn da alt werden?« Da hat er gerade ein neues Lebensziel entdeckt, und schon lässt sein Diener ein Fenster zu viel auf. Es beginnen, hier in Tribschen, die schönsten Jahre für Richard Wagner und Cosima von Bülow. Und für den fünfundzwanzigjährigen Tüll-mit-Sternen-Spezialisten und Nüssevergolder auch.
    Es besteht erheblicher Grund zu der Annahme, dass Friedrich Nietzsche die Weihnachtsgans gegessen hat.

Sokrates, 47 0 –399 v. Chr.,
Kupferstich nach antiker
Büste, um 1700.
    Herr Nüüützsche geht aufs Eis:
Sokrates als Verhängnis des Abendlandes
    Vom 3. Januar 1870 an klafft in Cosimas Tagebuch eine Lücke von fast einer Woche. Das wird nie wieder – oder nur noch einmal – geschehen, aber sie weiß dafür eine Entschuldigung: »Die meiste Zeit mit Pr. Nietzsche verbracht, welcher uns gestern verlassen hat.«
    Das neue Jahr findet auch Wagner an einem Beginn, allerdings am Beginn eines Endes. Er komponiert das Vorspiel zur »Götterdämmerung«.
    »Sie bleiben bis zu Unserem zugleich eintretenden Tod mein König und Gott, der Herr meines Lebens, der Grund meines Daseins«, meldet der kleine König nach Tribschen. Nein, Ludwig hat nicht vor, den Mann zu überdauern, der seinem Leben einen Sinn aus Tönen gegeben hat, und einen anderen, das ahnt Ludwig, hatte es nie und wird es nie haben. Aber so lange er lebt, also notgedrungen König ist, will er – Wagner wird das gleich erfahren –, was ihm zusteht. Am 12. Januar lesen es die Tribschener in der Zeitung: Der König befiehlt »Die Walküre«. Sein Urheber wird wohl nichts daran ändern können, und auch nichts anderes: nicht die Länge des kleinsten Tons, keine Zinne an Brünnhildes Helm.
    Es ist eine Schmach. Cosima: »Die Walküre ist verhängt – nun mögen uns die Götter helfen.« Aber auf die ist, wie er aus seiner eigenen Oper wissen könnte, längst kein Verlass mehr. Also entschließt sich der Komponist zu einer Anfrage, um deren Vergeblichkeit er bereits weiß: Dürfe er, Wagner, Vater der Walküre, nicht selbst sein Kind vor dem Schlimmsten behüten und auf allerhöchsten Befehl nach München kommen? Ludwig lehnt ab. Wer hat es denn zu verantworten, dass Bülow weg ist, dass Richter weg ist …? Der königliche Stolz wehrt sich gegen diesen unverschämtesten, gleichwohl begabtesten seiner Diener.
    In Basel erwägt der Professor inzwischen, sich einen Hund zu kaufen und ihn »Perfall« zu nennen. Das ist, wie längst erwähnt, der Münchner Intendant. Aber Cosima ist dagegen: »… nur keine Ironie mit Thieren. Sie würden dem treuen ernsten Blick Ihres Hundes nicht mit gutem Gewissen entgegnen« 149 , ein humoristischer Name indes sei in Ordnung. Im Übrigen rate sie sehr von der dänischen Dogge ab, an die Nietzsche denkt. Zu groß, zu lästig im Zimmer, »wogegen ein Wachtelhund oder ein schöner gescheidter Pudel Ihnen gewiss Freude machen wird«. 150 Als »Hund der Zukunft«, wie Cosima sagt.
    Cosimas Anrede lautet jetzt vorzugsweise »Lieber Herr Nützsche«, denn die Kinder haben sich auf diese Aussprache seines Namens geeinigt, obwohl sie sich über den Beruf des Puppentheaterverantwortlichen durchaus uneins sind, »Fressor« sagt Eva. »Professor, er fresst ja keinen«, sagt Isolde.
    Ihr Vater beginnt seinen zweiten Januarbrief nach Basel mit der Anrede »Liebster Unbedenklicher!«, um ihm »allerhand gute Entbindungen« zu wünschen. Die beiden Schwangerschaftssachverständigen wissen genau, worüber sie sprechen. Nietzsche wird in Basel gleich zwei Vorträge halten. Zur »Stillung der Wehen« sende er, Wagner, seine neue Schrift »Über das Dirigieren« mit. Eigentlich wollten die

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