Nietzsche und Wagner: Geschichte einer Hassliebe
Vielleicht ist das die einzige Form des Kommunismus, die er je anerkennen wird: als Ausnahmezustand.
Nein, solches Betragen kann der Professor gewöhnlich nicht billigen, nichts kommt ihm ärger an als rasendes Volk. Es handelt sich um einen Übergang! Und zwar um den zur Kunst. Und wirklich, er schafft es noch auf derselben Seite bis zur sublimsten Läuterung des Exzesses: Wenn nun der Rausch das Spiel der Natur mit dem Menschen ist, so ist das Schaffen des dionysischen Künstlers das Spiel mit dem Rausche. … So muß der Dionysosdiener im Rausche sein und zugleich hinter sich als Beobachter auf der Lauer liegen. Nicht im Wechsel von Besonnenheit und Rausch, sondern im Nebeneinander zeigt sich das dionysische Künstlertum. Das ist die Pointe, der Kern. Zugleich ganz innen und ganz außen. Welch zerreißender Zustand. Welche Quallust. Diesen exzentrischen Aufenthaltsort wird der Denker Friedrich Nietzsche nie aufgeben, höchstens zwischenzeitlich vor Erschöpfung.
Beethoven und Dionysos!
Er ist ein Theoretiker. Der Krieg ist keiner. Jede Entstehung einer neuen Welt bedeutet den Untergang einer alten. Sollte er sein Wissen um die dionysische Weltanschauung um die Dimension des persönlichen Erlebens erweitern? Er wird wohl mehr die Vernichtungs- als die Entzückungsseite erforschen müssen.
Andererseits ist es leichtfertig, sich aufs Schlachtfeld zu begeben. Er ist freier Schweizer, erst im Vorjahr hatte er der Baseler Erziehungsbehörde mitgeteilt, dass er es für seine Pflicht halte, sein Wirken an der Universität nicht von Krieg und Frieden abhängig zu machen. 189 Er ist kein preußischer Untertan mehr, damals klang, was ihm Befreiung war, nach Opfer und höherer Einsicht. Er ist staatenlos. Doch wie undenkbar ist es, jetzt zu sagen: Ich bin staatenlos. Gar Wagner und Cosima?
Ein freier Professor der »freien Schweiz« hat nur ein Vaterland: die Freiheit. Mag sein, er weiß das schon jetzt. Natürlich weiß er es, schon als Philologe, der weiter zurücksieht als gewöhnliche Menschen und darum, das ist seine Überzeugung, auch weiter voraus: Inzwischen kehren wir zu den Griechen zurück, um uns zu sagen, wie lächerlich der moderne Nationalitätenbegriff sich der Pythia gegenüber ausnimmt, und ein wie ungeschicktes Wünschen es ist, eine Nation als eine sichtbare mechanische Einheit, mit gloriosem Regierungsapparat und militärischem Prunke ausgestattet sehen zu wollen. 190 Ja, er fürchte, in der Bedauerlichkeit, dass der moderne Nationalitätenbegriff überhaupt gefasst worden sei, habe die Natur uns mitteilen wollen, dass ihr nicht gerade viel an uns gelegen sei. Den Modernen fehlt eine Warnerin wie die Pythia – für Friedrich Nietzsche ist sie die weiseste aller Frauen –, und noch Wotan hatte Erda. Die Weisheit der Frauen ist eine warnende, Gegengewicht zur Eigenlogik der Staatskunst.
Die Griechen waren auch als Denker Krieger. Auf dieser Relation, wie eng oder weit sie auch geknüpft sei, wird er immer bestehen. Ist er selber einer? Er muss sein Griechentum erproben.
Heroische Entschlüsse fasst man am besten in heroischen Landschaften. »Siegfried, unser Siegfried wird eine andere Welt finden!«, notiert Cosima am 7. August unter dem Eindruck des ersten großen deutschen Siegs bei Wörth. So früh und kaum für möglich gehalten. Friedrich Nietzsche lernt im Maderanertal einen Hamburger Landschaftsmaler kennen, der hier die Gipfel studiert. Vielleicht überlegen sie gemeinsam, auch unter dem Eindruck dieses unverhofften Siegs, dass man den Heroismus nicht länger der Landschaft überlassen dürfe.
Gemeinsam wollen sie es wagen.
Am 8. August teilt Friedrich Nietzsche der Baseler Erziehungsbehörde mit, dass er es doch für seine Pflicht halte, sein Wirken an der Universität von Krieg und Frieden abhängig zu machen. Cosima und Richard Wagner erfahren, dass der Professor in den Krieg ziehen möchte.
Cosima antwortet sofort. Mag sein, sie fragt sich, welches Vaterland nicht Furcht vor einem Altphilologen auf dem Schlachtfeld haben müsste. Zumal wenn er so kurzsichtig ist, dass er den Feind garantiert nicht erkennt, selbst wenn er vor ihm stünde. Sie ist dagegen, entschieden dagegen, auch wenn er als Krankenpfleger ginge; ihr Ton ist beinahe ungebührlich: »Wir haben jetzt nicht 1813; ein wohlorganisirtes vorläufig siegendes Heer steht auf französischem Boden; ebenso wohl organisiert ist die Krankenverpflegung, und jeder Dilettant wird dort scheel angesehen als einer der mehr belästigt
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