Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Nietzsche und Wagner: Geschichte einer Hassliebe

Nietzsche und Wagner: Geschichte einer Hassliebe

Titel: Nietzsche und Wagner: Geschichte einer Hassliebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kerstin Decker
Vom Netzwerk:
Ufer zurück und fährt allein nach Tribschen hinüber. Elisabeth schaut durch ihr Opernglas auf das Haus unter den hohen Bäumen. Das Opernglas ist ein Geschenk ihres Bruders. Am Abend ist er wieder da, und wenn sie jetzt beide durch Elisabeths Opernglas schauten und es wirklich so gut ist, wie er behauptet, könnten sie auf der Landzunge eine dieser Tage nicht ganz gewöhnliche Gesellschaft beieinander sehen. Lauter Franzosen, feindliche Ausländer also. Cosima erträgt seit fast zwei Wochen keine Franzosen mehr, aber dies sind französische Wagnerianer, die in München soeben das »Rheingold« und die »Walküre« gesehen haben. Schon das missbilligt der Hausherr, und wenn sie sich auf dem Rückweg nicht beeilen, treffen sie ihr Vaterland möglicherweise gar nicht mehr an. Nein, Richard Wagner findet diesen Besuch unpassend, aber wie könnte er Judith, die schöne Judith Mendès abweisen? Und so beschließt der Hausherr, dass die Musik ihr aller erstes Vaterland sei. Camille Saint-Saëns begleitet Richard Wagner am Klavier. Der Hausherr singt die Nornenszene der »Götterdämmerung«, über deren wunderbares Gelingen er immer wieder selbst erstaunen muss, so unversöhnlich-versöhnlich, so schrecklich-schön ist sie, und das Versöhnliche, das Schöne, das Erträglichmachende liegt allein in der – unendlichen? – Musik, die jedem – endlichen? – Wort hier zu widersprechen scheint: »Weißt du, wie das wird?« Ja, der Schrecken liegt allein in der Endlichkeit. Oder wie Onkel Adolf, der Hegelianer, das ausdrücken würde: »Jedes Ding, zuerst das Ewige fliehend«, versucht sich »in seiner Eigenheit festzusetzen und sich im Kampf mit anderen zu behaupten, bis es endlich, wieder aufgenommen in die Idee, von der es ausging, in vollem ruhigen Glanze erstrahlt«. 186 Onkel Adolf würde stolz auf seinen Neffen sein. Und was nützt es, diesen Glanz zu beschwören? In Töne bannen muss man ihn, ihn mitten in der Wirklichkeit aussetzen! Auch ist das eine Perspektive, in der ein Germane sogar mit feindlichen Ausländern Musik machen darf. Und wenn er Judith Mendès so anschaut, die schöne Judith, diese Nicht-Brünnhilde, in deren Gesicht alles Süden ist statt Norden – und auch sie schaut ihn an –, so mag er fast nicht mehr an die Existenz von feindlichen Ausländern glauben.
    Am nächsten Morgen ist Judith weg, Nietzsche ist da und Richard Wagner liest ihm aus seinem »Beethoven« vor. Wie sehr ihr Nachdenken über das Wasser hinweg ineinanderging, aneinander anschloss, muss dem Professor sofort klar geworden sein. Auch wenn er nicht über Beethoven nachdachte, sondern über Dionysos. Beethoven und Dionysos scheinen von verschiedenen Planeten zu stammen. Doch beide entfesseln alle Dämonen, wagen den Tanz mit dem Schrecken. Das Ergebnis heißt »griechische Tragödie« oder Beethoven ’ sches Finale. Zwei Anrufungen des Urgrundes. Er muss darüber nachdenken. Über alle Konsequenzen seiner Einsicht, dass auf dem Grund des Schönen das Schreckliche wohnt. Wo? Am besten dort, wo man diesen Tatbestand am unentrinnbarsten, doch zugleich als immer schon Entronnener vor Augen hat. Im Maderanertal, wildestes Hochgebirge.
    Aber bevor sie fahren, will er seine Schwester in Tribschen einführen. Nach dem Essen holt er sie. Mag sein, man findet in der Schmähung Frankreichs, in der Verurteilung der frechen Mode, der Äußerlichkeit seiner Zivilisation eine gemeinsame Sprache. Was bei Wagner nicht ohne Tiefe gedacht ist und in der Schwebe des Gedankens gehalten werden muss, um nicht falsch zu werden, stimmt an seiner Oberfläche, will man es wie das Rheingold einfach in der Hand halten, doch mit dem vorurteilsvollen Weltbegriff jedes Philisters überein. Vielleicht verstummt der große Bruder bei diesen Tönen, vielleicht zeigt sich Elisabeth in der Tat so, wie Cosima es nachher in ihr Tagebuch einträgt: »artig und bescheiden«, also tendenziell stumm.
    Eigentlich wollten die Tribschener ins Maderanertal fahren, Cosima hatte schon eine Anfrage geschickt und vor der Antwort gebangt. In den Augen der Welt, und das sind nicht zuletzt die der Hotelbesitzer, sind sie Undazugehörige, Geächtete. Welches Hotel, das auf sich hält, vermietet an ein kinderreiches unverheiratetes Paar? Wie tief gerührt war Cosima, als die über jedes Erwarten freundliche Antwort eintraf, aber eben erst, auf dem Pilatus überkam sie mit Schopenhauer die Einsicht, für die gewöhnlichen Zerstreuungen der gewöhnlichen Menschen nicht gemacht zu

Weitere Kostenlose Bücher