Nietzsche und Wagner: Geschichte einer Hassliebe
Nietzsche hat nicht vor, ihn zu verlieren. Gen Tribschen wird er das alles wohl etwas vaterländischer formulieren und mit dem unverdächtigen Kriegsvorbehalt, den auch Cosima und Richard teilen, insofern sie alle Kinder Schopenhauers sind.
Zwei Tage darauf, am 19. Juli 1870, erklärt Émile Ollivier Deutschland im Namen Frankreichs offiziell den Krieg. Er gehörte einmal zur Familie; Ollivier, der Anwalt, war der Mann von Cosimas geliebter älterer Schwester Blandine. Er zählt zu den Menschen, die Richard Wagner schon immer ein Doppelgesicht attestiert haben: Die obere Hälfte ein Gott, die untere ein Teufel. Und dieses herrschsüchtige Kinn! Es missfällt ihm. Vielleicht erklärte Émile Ollivier an diesem Tag auch Richard Wagners Kinn den Krieg, ganz gewiss sogar, denn steht es nicht symbolisch für die neue Dreistigkeit dieser germanischen Nibelungenzwerge? Richard Wagner formuliert denselben Sachverhalt gewöhnlich etwas anders, etwa so: »mit Deutschlands Wiedergeburt und Gedeihen steht und fällt das Ideal meiner Kunst – nur in jenem kann dieses gedeihen!« 184
Cosima nimmt die Erklärung des einstigen Schwagers als Zeichen und ist im Übrigen der Meinung, dass die Franzosen für jeden einzelnen Takt des »Tannhäuser«, den sie auszischten, nun die verdienten Schläge bekommen. Auch Richard Wagner kann den Eindruck nicht ganz abwehren, als sollten alle Kränkungen, die ihm dieses Land je zugefügt hat, jetzt gerächt werden. Als werde dieser Krieg nicht zuletzt für ihn geführt.
Es ist nicht Größenwahn, nicht bloße Verstiegenheit, die ihn zu solchen Erwägungen treibt. Die Kultur, die zu seiner Musik passt, gibt es noch nicht. Einerseits ist der Krieg für jeden Schopenhauerianer eine große Verlegenheit, andererseits ist ein Musiker gewissermaßen Spezialist für die Entstehung des Schönen aus dem Schrecken. Sollte der Krieg im besten Fall gar ein Musiker sein, wenigstens dieser?
Er ist kein Held. Ja, es kann geschehen, dass Cosima einen Mann im Haus zurücklässt, der eben noch für sie die »Walküre« spielte, der glaubt, an den Sieg der deutschen Musik und der deutschen Waffen zu glauben, und als sie wenig später zurückkehrt, findet sie ihn tief verstört vor. Die Haushälterin war grob zu ihm gewesen. Das macht ihn wehrlos. Dagegen weiß er keinen Schutz. Feldherren, ob im Theater oder auf dem Schlachtfeld, sind aus anderem Stoff gemacht. 185
Auch der da jetzt auf dem Dampfschiff an der Tribschener Landzunge vorüberfährt, ist keiner, war keiner und wird nie einer werden. Immerhin kann er wieder laufen. Und fährt einfach vorbei. Friedrich Nietzsche ist nicht allein. Soll er seine Schwester wirklich über die Schwelle dieser Welt treten lassen, die ihm am teuersten ist, oder hieße das schon, den Ort zu entweihen?
Ein Mädchen, an dem alles provinziell ist, sein Gemüt, seine Moral, sein Geschmack, seine Selbstgerechtigkeit. Wer würde wen mehr in Verlegenheit setzen? Das unverheiratete Paar mit den vielen Kindern Elisabeth Nietzsche oder die kleine Spießerin – für jeden Spießer ist das Große vor allem eins: eine Se henswürdigkeit – die Halbinsulaner? Vielleicht sieht er Tribschen jetzt beinahe mit Erleichterung zurückbleiben, ein verblassender Punkt in diesem neuen Welttag, der nun also ein Kriegstag werden soll. Sie wollen nach Brunnen. Andere fahren in den Krieg, er fährt zur Kur.
An seinem Ende des Vierwaldstätter Sees beginnt Richard Wagner über Beethoven nachzudenken. Der Krieg und sein großer Beethoven-Aufsatz sind gewissermaßen gleichursprünglich. Am Sonntag, dem 17. Juli, hat Deutschland Frankreich den Krieg erklärt. Am Montag bemerkte Cosima, dass Ludwig van Beethoven nicht nur genau einhundert Jahre zuvor geboren wurde, sondern auch an einem 17., wenn auch im Dezember. So wäre also, überlegt Cosima, der Krieg die eigentliche Beethovenfeier, zumal Richard Wagner zu den übrigen nicht eingeladen wurde, gerade er, sein legitimer Nachfolger. Ohne Beethoven kein Wagner. Die Bonner Festveranstalter hatten ihn einfach übergangen, und in Wien, das ihn zwar einlud, sind Hanslick und Schelle, seine beiden größten Kritiker, da kann er nicht hin. Also beschließt er am 20. Juli, eine Rede auf Beethoven zu entwerfen, wie er sie auf einer idealen Beethovenfeier halten würde mit sich selbst als Hauptreferent. An manchen Tagen arbeitet er bis zum »Augenflimmern«, wie Cosima sagt.
Auf dem Rückweg von Brunnen lässt Friedrich Nietzsche seine Schwester am anderen
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