Nietzsche und Wagner: Geschichte einer Hassliebe
Zukunft gerichtet, ist ganz religiös – das dramatische Kunstwerk ist deshalb im Stande, die Religion zu vertreten. 200
Die dionysischen Festspiele der Griechen seien das Ernsthafteste ihrer Religion gewesen: Theater also. Und doch nicht Theater.
Sie hört in diesen Tagen, weit weg und ihm doch sehr nah, den »Lohengrin«, von Hans Richter gespielt, der doch zu Hause geblieben ist. Sie überlegt, »wie das eigentlich mein Schicksal entschieden hat; wie ich dem Lande angehören wollte, das einzig solches hervorbringen konnte« 201 . Das ist der Stoff, aus dem ihre Einverständnisse sind.
Friedrich Nietzsche und der Hamburger Maler folgen der Armee. Bis nach Paris, so glauben sie. Fröschweiler gehört zu Frankreich, es heißt nur so, als gehörte es zu Deutschland. Nun beginnen die französischen Orte, französische Namen zu tragen. Am 2. September erreichen sie Ars sur Moselle bei Metz. Nietzsche bekommt allein sechs Schwerverletzte zugeteilt und einen elenden Viehwagen zum Transport nach Karlsruhe. Die Verwundeten haben zerschossene Knochen, mehrere mit 4 Wunden; dazu constatierte ich bei Zweien noch Wunddiphteritis. 202 Drei Tage und drei Nächte ist er mit den stöhnenden, schreienden Soldaten allein, versorgt sie, verpflegt sie. Sie liegen auf bloßem Stroh. Vormittags drei Stunden Verbinden, abends drei Stunden Verbinden. Es regnet, die Waggons müssen fast geschlossen werden, damit die Leidenden nicht durchnässen. Alle haben die Ruhr. Der Gestank nimmt ihm den Atem, die Nächte sind keine, denn der Schmerz macht keine Unterschiede zwischen Tag und Nacht. Er aber denkt an »Wahn«, »Wille« und »Wehe«, seine Gedanken sind in den Urgründen der Tragödie. 203 Daß ich in diesen Pestdünsten aushielt, selbst zu schlafen und zu essen vermochte, erscheint mir jetzt wie ein Zauberwerk 204 , wird er Richard Wagner schreiben.
Am ersten Tag dieser Fahrt wird Napoleon III. im Hauptquartier seines verwundeten Armeekommandanten MacMahon ge fangengenommen und kapituliert. Cosima notiert: »Napoleon III. sich dem König ergeben!!! Das ist ein Taufgeschenk für Fidi!« Am nächsten Tag wird Helferich Siegfried Richard Wagner gegen seinen in Tränen aufgelösten Widerstand, namentlich bei der Herabkunft des Heiligen Geistes, in die Christenheit aufgenommen.
Der Vater betrachtet seinen Sohn, der noch nicht weiß, welcherart Sieg und welcherart Frieden er da im Namen trägt, doch Siegfried macht jetzt schon wahr, worauf die Großen hoffen: Er begräbt ganz Frankreich – eine große Sandburg – unter seiner kleinen Schaufel. Das ist das Prinzip Tathandlung, das Naturell des Helden. Richard Wagner sieht es mit Freude und Nachdenklichkeit. Ob jetzt alle Heldenmusik hören wollen? Er möchte, sagt er Cosima, eine Trauermusik für die Gefallenen schreiben, keine Siegeshymne. Für Siegeshymnen fehle ihm das Talent. Und Gefallene – sind das nicht alle, Deutsche und Franzosen? Der Sieger hat nur eine Seite, Opfer haben mehrere; es gibt keine triumphalen Opfer. Cosima betrachtet in der Zeitung Bilder französischer Soldaten: »Vollständiger Cretinismus blickt aus den sinnlichen, bestialischen, vom Trunk verdummten Gesichtern.« 205 Mag sein, ihr Mann schweigt. Auch der Freund, noch immer allein mit den Verwundeten, hat schon in Erlangen, während seiner Schnellausbildung zum Sanitäter, Preußen, Franzosen und Nordafrikaner versorgt. Freund und Feind nach Nationalitäten zu bestimmen, ist ihm schon jetzt unmöglich. Im Zweifel würde er einen Turco, wie die Nordafrikaner genannt werden, jedem Preußen vorziehen. Und auch Richard Wagner wird noch in diesem Monat vor Verzweiflung über die Deutschen den Franzosen den Sieg wünschen, zumindest probeweise.
Fassungslos betrachtet er eine Sonderseite der »Illustrirten Zeitung«, die den vollständigen Text der »Wacht am Rhein« abdruckt: »Es braust ein Ruf wie Donnerhall, / wie Schwertgeklirr und Wogenprall: / Zum Rhein, zum Rhein, zum deutschen Rhein! / Wer will des Stromes Hüter sein? … Durch Hunderttausend zuckt es schnell, / und aller Augen blitzen hell: / Der Deutsche, bieder, fromm und stark, / beschützt die heil’ge Landesmark …« Richard Wagner werden die Tränen kommen. Eine Nation, die mit solchem Liedgut zum Schlachtfeld zieht, ist verloren. Er sieht die Franzosen lächeln. Sie haben recht, sagt er.
Felddiakon Friedrich Nietzsche übergibt die Schwerverwundeten in Karlsruhe dem Lazarett und fährt am nächsten Morgen weiter zum Rapport an die Felddiakonie
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