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Nietzsche und Wagner: Geschichte einer Hassliebe

Nietzsche und Wagner: Geschichte einer Hassliebe

Titel: Nietzsche und Wagner: Geschichte einer Hassliebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kerstin Decker
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sein. Das bedeutete Verzicht.
    Friedrich Nietzsche wird einmal ein Virtuose solcher Einsichten werden, doch jetzt sitzt er zum ersten Mal 1300 m über dem Meeresspiegel vor schauerlichsten Felsabstürzen und denkt über »die dionysische Weltanschauung« nach.
    Natürlich kommen dem Menschen hier oben andere Gedanken als in einer Bibliothek. Das Begriffspaar, das bald jede Bibliotheks- und Universitätstür aufstoßen und in die Welt hinaus wandern würde, sich in Künstlercafés, in den Hirnen von Malern und Dichtern, auf ihren Bildern und in ihren Büchern niederlassen würde, ja sogar in den Hirnen fast ganz gewöhnlicher Menschen, an denen vielleicht nur ungewöhnlich war, dass sie substantivische Bestimmungen wie »das Apollinische« und »das Dionysische« gebrauchten, als ob es nichts Selbstverständlicheres zu sagen gäbe, und dabei sogar den Anschein erwecken würden, als wüssten sie nur zu genau, wovon sie sprächen – es fand hier seine erste grundlegende und grundstürzende Verhältnisbestimmung. Als gegenseitige Haltevorrichtung. Denn jede Grundlegung ist ein Grundsturz, wie die Umgebung auf anschaulichste Weise vor Augen führt, wenn Umgebung hier das rechte Wort sein sollte.
    Dabei müsste schon der erste Satz die Alltagsapolliniker und -dionysiker irritieren: Die Griechen, die die Geheimlehre ihrer Weltanschauung in ihren Göttern aussprechen und zugleich verschweigen, haben als Doppelquell ihrer Kunst zwei Gottheiten aufgestellt, Apollo und Dionysos. 187
    Apollo, der Bildnergott, der »Scheinende« durch und durch: in tiefster Wurzel Sonnen- und Lichtgott, der sich im Glanze offenbart. Sein Gesetz: die – maßvolle – Begrenzung, die Ruhe, beide Synonyme der Schönheit. Aber auch der schöne Schein der – ruhigen – Traumwelt ist sein Reich.
    Wie anders Dionysos, geboren aus den beiden Erfahrungen, in denen der Mensch schon immer die Einzelhaft im je eigenen Körper, im je eigenen Geist als Illusion erfahren hat: im Rausch des Alkohols und des Geschlechts. Der Autor nennt sie wohl mit Rücksicht auf die akademische Verfasstheit des Publikums sowie seine eigene vorsätzlich zartsinnig den Frühlingstrieb und Rausch des narkotischen Getränks.
    Es kommt darauf an, beim ersten Wort nicht an Maiglöckchen zu denken und beim zweiten nicht an Damen beim Likör. Es handelt sich im Gegenteil um zwei absolute Gewalttätigkeiten, zwei Exzesse, zwei Grobheiten höchster Ordnung, um Dinge also, gegenüber denen der Professor gewöhnlich lebhafte Abscheu empfindet. Er braucht nur an den Alptraum seiner Mitgliedschaft in der Bonner Studentenverbindung zu denken: Kneipen und Hurenhäuser. Zwei Orte der selbsterteilten Freistellung vom principium individuationis. Und ist da nicht noch ein dritter, warum zählt er den Fechtboden nicht dazu? Die Mordlust als dritte Elementarmacht, als Rücknahmeinstanz des Lebens. Nimmt er sie nicht auf, weil sie in den beiden anderen schon enthalten ist? Gewöhnlich fängt der Mensch für Friedrich Nietzsche erst jenseits dieser beiden, dieser drei Orte an. Oder sollten wir einfach sagen: jenseits der Natur, blind zeugend, blind verschlingend?
    Überall werden gerade Elementargottheiten entdeckt, das drängend Volkshafte bei Marx, die Auslese »durch natürliche Zuchtwahl« bei Darwin – Friedrich Nietzsche entdeckt inzwischen die kulturelle Elementargottheit.
    Man sollte nicht versäumen, nur weil die Pointe schon vertraut ist, die erstaunliche Anteilnahme zu vermerken, mit der Friedrich Nietzsche den Zug der vorgeschichtlichen Grobiane schildert: Das principium individuationis wird in beiden Zuständen durchbrochen, das Subjektive verschwindet ganz vor der hereinbrechenden Gewalt des Generell-Menschlichen, ja des Allgemein-Natürlichen. Die Dionysos-Feste schließen nicht nur den Bund zwischen Mensch und Mensch, sie versöhnen auch Mensch und Natur. Freiwillig bringt die Erde ihre Gaben, die wildesten Thiere nahen sich friedfertig: von Panthern und Tigern wird der blumenbekränzte Wagen des Dionysos gezogen. All die kastenmäßigen Abgrenzungen, die die Noth und die Willkür zwischen den Menschen festgesetzt hat, verschwinden: der Sklave ist freier Mann, der Adlige und der Niedriggeborene vereinen sich zu denselben bacchischen Chören. In immer wachsenden Scharen wälzt sich das Evangelium der »Weltenharmonie« von Ort zu Ort: singend und tanzend äußert sich der Mensch als Mitglied einer höheren idealeren Gemeinsamkeit: er hat das Gehen und das Sprechen verlernt. 188

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