Nietzsche und Wagner: Geschichte einer Hassliebe
Mobilmachungsbefehl vom 16. Juli, noch vor der offiziellen Kriegserklärung an Frankreich. Der große Bayer geht mit Preußen! Das ist neu. Das ist reichsbegründend. Das ist wohl auch sein Werk, sein Einfluss. Es ist Richard Wagner eine Übertreibung wert, er ist nun mal eine ekstatische Natur. Dank sei dem König!
Der Gegenglückwunsch des Monarchen klingt beinahe kühl; Hochzeiten sind für ihn nun mal eine Verlegenheit:
»Brauche ich Ihnen zu versichern, daß ich mehr denn je am heutigen für Sie und die Freundin so bedeutungsvollen Tage im Geiste bei Ihnen bin! Brief folgt bald.« 197
Als Cosima von Bülow und Richard Wagner vor den Altar treten, betritt der im Schnellkursus ausgebildete Felddiakon Friedrich Nietzsche die Schlachtfelder. »Siegfried, unser Siegfried wird eine andere Welt finden!«, hatte Cosima am 7. August unter dem Eindruck des deutschen Siegs bei Wörth notiert. Drei Wochen sind vergangen. Übermächtiger Leichengeruch liegt noch immer über dem kleinen Dorf Fröschweiler. Friedrich Nietzsche hat den Auftrag bekommen, auf dem Schlachtfeld nach dem Grab eines bayerischen Offiziers zu suchen. Fast 20 000 Menschen sind hier gefallen, Abertausende tote Kavallerie- und Zugpferde lagen bei großer Hitze in den Wein- und Obstgärten der Bauern, auf Wiesen und Feldern. Seit drei Wochen bestatten Männer, Frauen und Kinder Tote. Fast alle Zugtiere wurden ihnen weggenommen, und die wenigen, die ihnen blieben, verweigerten den Dienst: zu stark war der Verwesungsgeruch. Wie soll man hier das Grab eines einzigen Offiziers finden?
Der Pfarrer von Fröschweiler denkt seitdem über die Wendung »In-den-Krieg-Ziehen« nach. Sie beinhaltet seine wichtigste, ja seine grundlegende Voraussetzung: dass er beim Feind stattfinde, nicht zu Hause. Darum haben die Franzosen ihre Armee auch Rhein-Armee, L’armée du Rhin genannt, weil sie jenseits des Stromes kämpfen würde.
Fröschweiler bei Wörth war bloß Sammelpunkt, die meisten Verbände waren noch gar nicht eingetroffen. Und die, die schon da waren, blieben fast ohne Verpflegung. Die Proviantfrage: noch ungeklärt. Man sei archipret, erzbereit, hatte Kriegsminister LeBœuf erklärt, und wenn der Krieg zwei Jahre dauern würde, kein Gamaschenknopf werde fehlen. Die Deutschen würden sich hinter dem Strom eingraben und den Feind erwarten, hatte er geglaubt. Stattdessen griffen sie an, drei deutsche Armeen zum ersten Mal unter einem gemeinsamen Oberbefehl, die Bayern rechts, die Preußen in der Mitte, links hessisch-thüringisch-württembergische Verbände. Noch immer werden Soldaten begraben, Nietzsche und der Hamburger Landschaftsmaler nehmen teil, sie verladen in den Leichendünsten die Ausrüstung der Gefallenen. Sie finden sogar den toten bayerischen Offizier; Friedrich Nietzsche sammelt französische Chassepotkugeln. Im Kugelhagel dieser Gewehre, deren Reichweite das deutsche Zündnadelgewehr um fast das Doppelte übertrifft, starben Tausende, wenn sie nicht zuvor beim Überschreiten der Sauer ertrunken waren.
Nietzsche und Moosengel marschieren, manchmal 11 Stunden am Tag; wenn sie rasten, der Front immer näher, schreibt Nietzsche Briefe, meist an Cosima. Er schont ihr Gemüt nicht, ihre Vertrautheit gibt ihm das Recht dazu. Sie antwortet ihm, auch wenn sie weiß, dass vorerst keine Post ihn erreichen wird: »Sie sind nicht dazu gemacht solche Gräuelscenen zu schauen« 198 , sein religiöses Gefühl möge ihn schützen und bewahren. Ob sie ahnt, dass jeder Anruf an dieses Gefühl beim Pfarrerssohn Friedrich Nietzsche ganz vergebens ist? Was sie meint, ist das Erhobenwerden auch in diesem Niedergerissensein. Er ist da ähnlich trostresistent wie sein Freund Carl von Gersdorff, Urheber des Vegetarismusstreits. Gersdorff berichtet Nietzsche von einem großen Feldgottesdienst bei Mars-la-Tour: »Ich kann die Feierlichkeit nicht in Abrede stellen; es war ein glücklich gewählter Moment: für die, welche des Trostes eines Pfaffen bedürfen, um ruhig zu sterben … Mir war die Melodie ›In allen meinen Taten‹ viel erbaulicher, als die törichten Reden der Männer, die mit saurem Schweiß und für Geld nebst guter Verpflegung sagen, was sie nicht wissen.« 199 Die Religion geben die Freunde preis, nicht den Affekt, den sie nicht mehr auszulösen imstande ist: die Erhebung. Sie kommt nicht mehr von der Kanzel, sondern aus Wagners Musik. Jene Erhebung, wird er nur ein paar Wochen später vermerken, den Blick weit in die Vergangenheit und weit in die
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