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Nietzsche und Wagner: Geschichte einer Hassliebe

Nietzsche und Wagner: Geschichte einer Hassliebe

Titel: Nietzsche und Wagner: Geschichte einer Hassliebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kerstin Decker
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in Erlangen. Als er dort ankommt, ist er selbst ein Fall fürs Lazarett: Ruhr und »Rachen-Diphteritis«. Der Hamburger Landschaftsmaler pflegt ihn. Zwei Spezialisten fürs Erhabene haben in einer Woche mehr über das Nichterhabene gelernt als andere in langen Jahren. Der Krieg ist ein großer Verschwender. Als er, traktiert mit Tanninklystiren und Höllensteinmixturen , wieder einen Stift halten kann, holt er alle versäumten Glückwünsche nach: Lieber und verehrter Meister, so ist denn, mitten im Ungewitter, Ihr Haus fertiggeworden und fest begründet. 206 Er weiß, was er schreibt, und darf darauf rechnen, dass auch der Empfänger es weiß: Dass eben nichts fest begründet ist. Es kommt ihm sonderbar vor, in die Welt zurückzukehren, die man die alltägliche nennt. Es ist, als überschreite er eine Grenze. Er schickt dem Basler Erziehungsrat französische Gewehrkugeln und die Versicherung, sich diesmal auf die Kollegien zu freuen. Rhythmische und metrische Fragen durchdenken dürfen! Über das griechische Epos und die griechische Metrik wird er lesen. Es ist Privileg, nicht Last.
    Doch zuerst muss er gesund werden. Ich möchte jetzt, bei meiner Sehnsucht nach Ruhe und einer großen Erschöpftheit nirgends wo anders hin 207 , schreibt er der Mutter noch aus Erlangen am 11. September 1870.
    Wann hätte Franziska Nietzsche ihr Kind zuletzt so gehört? Die erstaunte Mutter bemerkt, wie sanft der Sohn geworden ist, ja, er interessiere sich jetzt sogar für ihre Belange. Und die Naumburger Tugend reiht den Krieg unter die entschiedenen Wohltaten des Daseins ein: »Ihm hat der Feldzug recht wohl getan, er hat das Leben einmal von einer ganz anderen Seite als bisher kennen gelernt.« Was soll er ihr berichten von dem, was er erlebt hat? Cosima sagt er es. Vielleicht sagt er ihr auch, dass er Tag und Nacht einen nie endenwollenden Klagelaut hört. Ihr Tagebuch vermerkt seine schwere Erschütterung.
    Schwer erschüttert sind am gleichen Tag, dem 16. September, aber auch die Tribschener: Richard Wagner bleibt lange auf seinem Zimmer, obwohl er das Gegenteil angekündigt hatte. Bleich kehrt er zurück in den Salon zu Frau und Freund, schickt Richter hinaus, der kommt auch nicht wieder. Sie wechseln lange Blicke, dann geht Wagner wieder hinaus. Nur wenn Cosima fragt, was denn los sei, fallen beide in eine unbeschwerte Tonart abwiegelnd-frohlockender Alltäglichkeit, bloß um ihre sichtlich unkonzentrierte Anwesenheit gleich wieder durch eine längere Abwesenheit zu ersetzen. Schließlich geben sie auf und alles zu: Fünf Fledermäuse hängen in Richard Wagners Schlafzimmer!

E. T. A. Hoffmanns
»Archivarius Lindhorst«
aus Porzellan, Manufaktur
Meissen, 1928.
    Treppenmusik oder Anselmus, der Archivar
Lindhorst und die Feuerlilie
    Fünf Fledermäuse in Richard Wagners Schlafzimmer und ein nie endender Klagelaut in Friedrich Nietzsches Ohr.
    Weißt du, wie das wird?
    Wir dürfen keinen Abgrund der Betrachtung scheuen, um die Tragödie bei ihren Müttern aufzufinden: diese Mütter sind Wille, Wahn, Wehe, beschließt Friedrich Nietzsche am 22. September, womit klar ist: Dionysos ist, zumindest dem Geschlecht nach, eine Falschmeldung. Richard Wagner ist der Experte dieser drei großen W’s. Es ist die erste Notiz zu einer Schrift, die »Die Tragödie und die Freigeister« heißen soll.
    Auch der Komponist selbst ist wieder zum Schwangerschafts experten geworden, ausgerechnet an »Beethoven«. Mag der Krieg männlich sein, ihm ist so weiblich zumute. Die Musik ist kein Mann. Immer wieder weiß Cosimas Tagebuch, dass der »Beethoven« jetzt fertig ist, aber es stimmt nie.
    Das Kind erwache aus der Nacht des Mutterschoßes mit dem Schrei des Verlangens, rekapituliert Wagners »Beethoven«. Wille, Wahn, Wehe, all das liegt in diesem Schrei, hätte er hinzufügen können. Nietzsche, weit weg, notiert es. Nur Musik ist das noch nicht. Die beschwichtigende Liebkosung der Mutter antworte dem Schrei des Kindes, fährt Wagner fort. Das ist die Bildseite, die apollinische, die taghelle, könnte Nietzsche anmerken mit Blick auf Kommendes. Warum verstehen wir die Klage der Tiere, der Lüfte, fragt Wagners »Beethoven« weiter, ganz unbekümmert darum, ob es Beethoven selbst je in den Sinn gekommen wäre, sich dies zu fragen. Die Antwort lautet, sehr schopenhauerisch: »… da sein innerstes Wesen mit dem innersten Wesen alles jenes Wahrgenommenen eines ist.« 208
    Schelling hatte diese Urszene des Gewahrwerdens so beschrieben: Im Menschen

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