Nietzsche und Wagner: Geschichte einer Hassliebe
schlage die Natur das Auge auf und schaue sich selber an. Richard Wagner hätte hier nur eine Korrektur vorzutragen, die allerdings dieses wunderbare Bild beschädigt: Die Natur beginnt im Menschen zunächst nicht, sich anzuschauen, sondern sich zuzuhören. Das Primat des Auges muss gebrochen werden im Namen der drei großen Ws, von Wagner, dem Denker der Wiege.
Im November, zurück in Basel, erhält Friedrich Nietzsche den »Beethoven« und weiß sofort, dass niemand so zum Verständnis dieser Schrift berufen ist wie er. Ist er vielleicht gar der Einzige? Erst seine eigene kleine Schrift – es ist die »Dionysische Weltanschauung« mitsamt der September-Nachträge – habe ihn zum Verständnis reif gemacht, teilt er dem »Beethoven«-Autor mit: In der That habe ich durch dieses Vorstudium erreicht, daß ich die Notwendigkeit Ihrer Beweisführung vollständig und mit tiefstem Genuß einsehe, so entlegen der Gedankenkreis, so über raschend und in Staunen versetzend alles und namentlich die Ausführung über Beethovens eigentliche That ist. 209 Und was Wagner ihm bei Gelegenheit des Sokrates zurief, erklärt er jetzt auch ihm anlässlich dieses hoch merkwürdigen »Beethoven«: Doch fürchte ich, daß Sie den Ästhetikern dieser Tage als ein Nachtwandler erscheinen werden, dem zu folgen nicht räthlich, ja gefährlich, vor allem unmöglich gelten muß. Selbst die Kenner Schopenhauerischer Philosophie werden der grössten Zahl nach ausser Stande sein, den tiefen Einklang zwischen Ihren Gedanken und denen ihres Meisters sich in Begriffe und Gefühle zu übersetzen. 210 Und dann, mit hingetupfter Attitüde: Und so ist Ihre Schrift, wie es Aristoteles von seinen esoterischen Schriften sagt »zugleich herausgegeben und nicht herausgegeben«. Richard Wagner wird es richtig verstehen, im äußersten Fall hat er nur für einen einzigen Leser geschrieben, für ihn, Friedrich Nietzsche. Aber ist ein Einziger im Ernstfall nicht viel mehr als eine ganze Nation? In Basel wird Nietzsche schon bald gefragt, ob Wagners »Beethoven« gegen Beethoven geschrieben sei. Wenn Nietzsche einen idealen Staat errichten dürfte, würde er alle »Gebildeten« daraus verbannen, den »Beethoven«-Exegeten wohl zuerst. Richard Wagner würde sich einer solchen Ausbürgerungspolitik anschließen.
Wagners erster – oder nach Cosima zweiter – Leser erkennt auch genau, was der Autor von »Über das Dirigieren« sagen will: Dionysos ans Pult! Weg mit den Schulmeistern! Wagner hat lange nicht mehr vor einem Orchester gestanden, ja, er wisse kaum noch, wie eines klingt, hatte er Ludwig unlängst mitgeteilt.
Am 9. Oktober erscheint am frühen Nachmittag zwischen den beiden großen Pappeln vor der Tribschener Terrasse ein großer Regenbogen. Cosima ruft ihren Mann. Ob der Bogen die fünf Fledermäuse überstrahlen kann? »Ein vollendeter Triumphbogen! Rheingold!«, ruft Cosima. »Bayreuth!«, sagt, hofft Richard Wagner. Einmal noch wollen sie es mit Deutschland versuchen, und wenn es wieder nichts wird, »dann leb wohl Norden und Kunst und Kälte, wir ziehen nach Italien und vergessen alles« 211 .
Friedrich Nietzsche wird Plan B einmal verwirklichen, jetzt aber hängen auch seine Gedanken ganz am ersten. Schon weil an den Universitäten nicht gedacht wird. Jacob Burckhardt natürlich ausgenommen, bei dem er gerade Vorlesungen über das Studium der Geschichte hört, die er als einziger seiner 60 Zuhörer wirklich zu verstehen meint, nämlich dort, wo die Sache an das Bedenkliche streift. Eben an diesem Punkt sucht auch er alle Sachverhalte der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft auf, was aber gerade nicht den Gewohnheiten einer Universität entspricht, weshalb er meint, Schopenhauers Lehre von der Universitätsweisheit immer mehr zu begreifen. An Rohde: Es ist ein ganz radikales Wahrheitswesen hier nicht möglich . 212 Er aber müsse unbedingt wahr sein. Weshalb er die Luft der Akademien nicht mehr zu lange ertrage. Und das ist der Bayreuther Punkt.
Rohde wird schon jetzt, im Herbst 1870, eingeweiht und aufgefordert zugleich: Also wir werfen einmal dieses Joch ab, das steht für mich ganz fest. Und dann bilden wir eine neue griechische Akademie … Du kennst wohl auch aus Deinem Besuche in Tribschen den Baireuther Plan Wagners . Ich habe mir ganz im Stillen überlegt, ob nicht hiermit zugleich unsererseits ein Bruch mit der bisherigen Philologie und ihrer Bildungsperspektive geschehen sollte. 213 Aber der Freund will doch erst noch Professor
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