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Nietzsche und Wagner: Geschichte einer Hassliebe

Nietzsche und Wagner: Geschichte einer Hassliebe

Titel: Nietzsche und Wagner: Geschichte einer Hassliebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kerstin Decker
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vergisst, wird er im Sommer dem Ritter vom Eisernen Kreuz ein wenig diktieren. Schade, dass Vischer und Ritschl nicht mithören können, sie würden vermutlich von ihren Ratsherren- und Lehrstühlen fallen:
    In irgend einem abgelegenen Winkel des in zahllosen Sonnensystemen flimmernd ausgegossenen Weltalls gab es einmal ein Gestirn, auf dem kluge Thiere das Erkennen erfanden. Es war die hochmütigste und verlogenste Minute der »Weltgeschichte«: aber doch nur eine Minute. Nach wenigen Athemzügen der Na tur erstarrte das Gestirn, und die klugen Tiere mußten sterben. 301 So könnte, sagt der Autor, jemand eine Fabel erfinden, und hätte doch nicht genügend illustriert, wie kläglich, wie schattenhaft und flüchtig der menschliche Intellekt innerhalb der Natur zu begreifen sei. Noch verschweige sie ihm das allermeiste, ja mehr noch: Sie habe ihn eingesperrt in sein Bewußtseinszimmer, den Schlüssel weggeworfen, und wehe der verhängnisvollen Neubegier, die durch eine Spalte einmal aus dem Bewußtseinszimmer heraus und hinab zu sehen vermöchte und die jetzt ahnte, daß auf dem Erbarmungslosen, dem Gierigen, dem Unersättlichen, dem Mörderischen der Mensch ruht, in der Gleichgültigkeit seines Nichtwissens, und gleichsam auf dem Rücken eines Tigers in Träumen hängend. 302 Womit er schon fast bei dem Begriff der »Wahrheit« wäre: Was ist also Wahrheit? Ein bewegliches Heer von Metaphern, Metonymien, Anthropomorphismen, kurz eine Summe von menschlichen Relationen, die, poetisch und rhetorisch gesteigert, übertragen, geschmückt wurden, und die nach langem Gebrauche einem Volke fest, canonisch und verbindlich dünken: die Wahrheiten sind Illusionen, von denen man vergessen hat, daß sie welche sind. 303
    Wer würde ihn im Gegensatz zu den Professoren sofort verstehen? Richard Wagner, sein bester Leser. Er arbeitet auch schon an der »Geburt der Tragödie«, 2. Teil: Die Philosophen des tragischen Zeitalters enthüllen, wie die Tragödie, die Welt. Das ist der Grundgedanke. »Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen« soll die neue Schrift heißen oder auch »Der Philosoph als Arzt der Cultur«. Der Weg von Thales bis zu Sokrates sei etwas Ungeheures. Er will Richard Wagner überraschen, vielleicht schon zu seinem Geburtstag. Er soll nicht umsonst in aller Öffentlichkeit seine Hoffnung auf ihn gesetzt haben, und er soll auch nicht warten müssen, bis Friedrich Nietzsche alt ist, denn dann wird Richard Wagner schon tot sein, und es liegt ein großes Risiko darin, den einzigen Menschen zu verlieren, der einen versteht. Darum schickt er ihm am besten gleich etwas – eine kleine Abhandlung, den »Florentinischen Tractat über Homer und Hesiod« betreffend –, und da Richard Wagner neuerdings fast immer auf Konzertreise ist, um Geld für Bayreuth zu verdienen, adressiert er die Hefte nach Berlin, wo es inzwischen bereits drei Wagner-Vereine gibt. Der dritte hält noch immer daran fest, die Nibelungenfestspiele in Berlin statt in Bayreuth aufzuführen.
    Da erfährt Friedrich Nietzsche, dass dieser einzige Mensch sich schon darin geübt hat, ihn als Verlorenen zu betrachten. Aber das ist doch über alle Maßen schrecklich! Endlich, Mitte Februar, bekommt er Post aus Bayreuth: »Ich beginne diese Zeilen mit der seltsamsten Verwirrung; was möchte Ich Ihnen, werther Freund, nicht alles sagen! Erklären, mich entschuldigen, gratuliren, danken und erzählen … Der Meister war durch Ihr Nichtkommen und durch die Art wie Sie uns dieses Nichtkommen meldeten, gekränkt; es widerstrebte mir Ihnen diess sogleich zu sagen, und es Ihnen nicht zu sagen, und ich übergab es der langmüthigen Zeit, die unbedeutenden Verstimmungen zu tilgen … – heute ist diess geschehen, und wenn wir von Ihnen sprechen, so höre ich nicht den leisesten Ton der gekränkten Freundschaft, sondern nur die Freude über das was Sie uns wiederum gegeben.« 304 Wie muss er erschrecken, als er diese Sätze liest; er hatte keinen Augenblick daran gedacht , solchen heftigen Anstoss gegeben zu haben; und ich fürchte immer durch solche Erlebnisse noch ängstlicher zu werden als ich es schon bin. 305
    Er fragt sich, wie man Wagner treuer, tiefer ergeben sein könne als ich es bin: wenn ich es mir denken könnte, würde ich es noch mehr sein. Aber in kleinen untergeordneten Nebenpunkten und in einer gewissen für mich nothwendigen beinahe »sanitarisch« zu nennenden Enthaltung von häufigerem persönlichen Zusammenleben muß ich mir eine

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