Nietzsche und Wagner: Geschichte einer Hassliebe
ganz einfach: Man verzichte auf den größten Wunsch seines Lebens – eine Italienreise –, kaufe für alle, nun freigewordenen Ersparnisse – 900 Mark – einen Patronatsschein und verschenke ihn an den eigenen Bruder. Der Bayreuther Intendant ist von solcher Großmut so gerührt, dass er umgehend selbst einen Patronatsschein kauft und ihn nach Naumburg sendet: »Mein liebes Fräulein! Nicht Sie allein können Patrone machen, auch ich kann es – was Sie erspart, habe ich erdirigiert. Wer hat mehr dabei geschwitzt?« 308 Wären schon zwei Patronatsscheine. Bis zum Sommer werden es 340 sein, die doppelte Zahl mindestens wäre nötig. Sollte Richard Wagner die finanzielle Oberaufsicht der Festspiele vielleicht einem Bankier übergeben? Etwa so: Der Bankier gibt einen großen Kredit, holt sich die Zinsen aber nicht von Richard Wagner, sondern über die Platzpreise.
Am nächsten Tag entfällt die Griechenlesung wegen Isoldes Geburtstag und der Erörterung der deutschen Auswanderung nach Amerika. Der Professor kann es sich nicht länger verbergen: Die tragischen Philosophen sind Richard Wagner schnurzpiepegal, zumindest im Augenblick. Nicht, dass er ganz und gar ohne philosophisches Temperament wäre. Der Name David Friedrich Strauß etwa elektrisiert ihn in erstaunlichem Maße.
Wie gern würde er seinem Meister eine Freude machen. Und wenn er etwas über, nein gegen diesen Strauß schriebe, das spürt er genau, würde er ihm eine sehr große Freude machen. Friedrich Nietzsche hat nichts gegen diesen Mann, woher auch, er kennt ihn ja gar nicht, weder ihn noch seine Bücher.
David Friedrich Strauß, Autor von »Das Leben Jesu« (1835/46), besitzt in Richard Wagners Augen viele Fehler. Dass er Jude ist, ist einer. Dass er Bücher schreibt und diese auch noch erfolgreich sind, kommt erschwerend hinzu. Vor allem aber, dass er diese »für das deutsche Volk« schreibt. Dass er jetzt gar ein neues verfasst hat, »Der alte und der neue Glaube«, in dem er Jesus Christus noch einmal zum unbewiesenen Idioten macht, ist für Richard Wagner endgültig zu viel. Sechs Auflagen in einem Jahr. Wer liest das? Mathilde zum Beispiel, Mathilde Wesendonck, seine alte Isolde. Erst im Februar hat er sich mit ihr über Strauß gestritten. Seit Mathilde-Isolde Bücher über Friedrich den Großen schreibt und Straußianerin geworden ist, versteht er seine eigene Oper manchmal nicht mehr. Kurz, gegen den Mann, Anti-Wagnerianer zumal, muss etwas unternommen werden.
Friedrich Nietzsche beschließt, diesen Strauß zumindest einmal zu lesen.
Am letzten gemeinsamen Nachmittag spielt Wagner den beiden ruinierten Philologen aus der »Götterdämmerung« vor: »Enden sah ich die Welt.«
Nur die Welt, oder auch Bayreuth?
Rohde und er trennen sich in Lichtenfels. In der Bahnhofsgaststätte steht Richard Wagners Büste.
Zurück in Basel, ist er tief melancholisch. Und bleibt es. Ein gutes Mittel gegen die Melancholie ist die Wut, und sei es die künstliche. Nietzsche liest Strauß. Er macht sich Notizen: Der Stil des Strauß beweist, daß er während eines langen Lebens viel schlechte Bücher gelesen – ich meine vor allem die Schriften seiner Gegner. Er hat am Christenthum das Beste vergessen, die großen Einsiedler und Heiligen, kurz das Genie und urtheilt wie der Dorfpastor über die Kunst oder wie Kant über die Musik. 309
Am 2. August ist Hebefest in Bayreuth. Der Himmel ist ganz blau vor Zukunft, die Mitglieder der Wagner-Vereine und der Patron selber besteigen das hundert Fuß hohe Haus und singen »Nun danket alle Gott«.
Vier Tage darauf treffen eine Broschüre und ein Brief in Bayreuth ein. Der Brief ist vom Hofsekretariat. Der König lässt anfragen, ob es denn wahr sei, dass die Aufführungen im nächsten Jahr, also 1874, noch nicht stattfinden? Die Broschüre ist vom Professor, es ist die Kopf-ab-Schrift gegen Strauß. Sie ist so, wie Richard Wagner sie sich gewünscht hatte. Wenn es jetzt einen Unterschied zwischen ihm und Wotan am Ende des »Ring« gibt, dann wohl den: Wotan hatte nicht so lustige Bücher zu lesen, als er allein in Walhall saß, um sich herum schon die geschichteten Scheite der gefällten Weltesche. Wotan hat Walhall immerhin errichtet, Wagner gelingt nicht einmal das. Die Bauleute können nicht mehr bezahlt werden. Mehr als der Rohbau ist nicht zu finanzieren.
Dafür hat sich Richard Wagner schon sein Grab ausgesucht, »eine bescheidene Gruft, welche uns dereinst Beide« – Cosima und ihn – »einschließen
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