Nietzsche und Wagner: Geschichte einer Hassliebe
am Jahresende – kein Gruß, kein Dank. Er hatte Cosima fünf Vorreden zu fünf noch ungedruckten Büchern zum Geburtstag geschenkt. Schweigen. Fast den ganzen Januar über: Schweigen. Dann, schon fast an seinem Ende, ein kurzes Telegramm: »Beim Klang der Schmiedelieder gedenkt Ihrer freundlich und dankend ob Ihres gezwungenen Schweigens traurig Cosima Wagner« 296 . Wer schweigt – er? Das weiß er doch besser: Sie schweigen.
Aber warum? Er wird es später erfahren, von Gersdorff, der über Neujahr in Bayreuth war: Erst tobte der Meister, er tobte lange. Wie er diesen Menschen liebe! Einen vorsätzlich Abwesenden! Er hat eine Mutter in Naumburg, das mag ja sein, aber er hat auch einen Vater in Bayreuth. Ist ein abwesender Sohn nicht schon ein verlorener Sohn? Dann tobte der Meister nicht mehr. Schweigen. Richard Wagner probiert zum ersten Mal aus, wie es ist, Friedrich Nietzsche zu verlieren, und wünscht nicht, in diesem Versuch gestört zu werden, auch nicht von seiner Frau, die sich für ihr Geburtstagsgeschenk bedanken möchte. Wehe! Wehe!
Noch ahnt der Urheber des Unmuts nichts. Er hat einen Katarrh, aber in sein Hirn steigt das Missbefinden nicht, es denkt in ihm seltsam übermütig, und es musiziert sogar. Auch hat ihn der »Allgemeine Deutsche Musikverein« zum Preisrichter ernannt: Ausgeschrieben ist eine Arbeit über Richard Wagners »Ring«, und er soll gutachten. Ein dritter Preisrichter fehlt noch; der letzte Wehemensch schlägt Hans von Bülow vor; er kann das auch begründen: Es handele sich um jemanden, von dessen kritischer Strenge ich die allergünstigste Meinung und Erfahrung habe. Es kommt sehr darauf an daß wir einen recht klingenden ebenso anspornenden als abschreckenden Namen finden – und das ist der Bülows. 297 Wie gut er auch das beurteilen kann, aber trotzdem – oder gerade deshalb – komponiert er wieder. Malwida von Meysenbugs Pflegetochter heiratet, da erinnerte er sich eines alten Weihnachtsoratoriums, komponiert 1861: Was als Einleitung zu »Mariae Verkündigung« möglich war, sollte auch als Einleitung einer Ehe möglich sein.
Vor allem aber denkt es in ihm:
Man muß beim Denken schon haben, was man sucht, durch Phantasie – dann erst kann die Reflexion es beurtheilen. Dies thut sie, indem sie es an gewöhnlichen und häufig erprobten Ketten mißt.
…
Der nüchterne Mensch braucht die Phantasie wenig und hat sie wenig.
Es ist jedenfalls etwas Künstlerisches , dieses Erzeugen von Formen, bei denen dann der Erinnerung etwas einfällt: diese Form hebt sie heraus und verstärkt sie dadurch.
Denken ist Herausheben. …
Fieberkranke an Wänden und Tapeten verfahren so, nur projiciren die Gesunden die Tapete mit. 298
Man muss beim Denken schon haben, was man sucht? Die Gesunden projicieren die Tapete mit? Friedrich Nietzsche hatte seinem früheren Professor nach Übersendung seiner Schrift auch noch eine Erläuterung geschickt: … ich dachte, wenn Ihnen irgend etwas Hoffnungsvolles in Ihrem Leben begegnet sei, so möchte es dieses Buch sein. 299 Ritschl macht sich Sorgen. Er teilt dem akademischen Rat der Universität Basel gerade mit, für wie aussichtslos er den Fall des einstigen Lieblingsstudenten hält, den er ihm empfohlen habe: »Es ist wundersam, wie in dem Manne geradezu zwei Seelen nebeneinander leben. Einerseits die strengste Methode geschulter wissenschaftlicher Forschung … andererseits diese phantastisch-überschwängliche, übergeistreich ins Unverstehbare überschlagende, Wagner-Schopenhauerische Kunstmysterienreligionsschwärmerei! Denn das ist kaum zu viel gesagt, daß er und seine – ganz unter seinem magischen Einfluß stehenden – Mitadepten Rohde und Romundt im Grunde auf eine neue Religionsstifterei ausgehen. Gott besser’s!« 300 – Nein, eben nicht zwei Seelen, eine Seele!, müsste Friedrich Nietzsche dazwischenrufen. Und mit der strengsten Methode allein beginnt niemand zu denken!
Vielleicht sollte er das den Philosophen sagen? Er hätte ihnen so viel mitzuteilen, etwa über die Wahrheit und ihre Herkunft. Die Philosophen sind noch nicht wütend genug, sie kennen ihn noch gar nicht. Er kann das ändern. Manchmal genügen schon wenige Zeilen, um sie über Jahrhunderte zu reizen. Dr. phil. U. W. v. M. legt ihm die Raubkatzen nahe? Nun, die Gelehrten werden die Tiger nicht so bald vergessen. Er denkt viel in diesem Frühjahr 1873, denn lesen kann er fast nicht mehr, schreiben auch nicht. Es sind die Augen. Damit er nicht alles wieder
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