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Nietzsche und Wagner: Geschichte einer Hassliebe

Nietzsche und Wagner: Geschichte einer Hassliebe

Titel: Nietzsche und Wagner: Geschichte einer Hassliebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kerstin Decker
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erwarte ich eine völlig neue Cultur! 253
    Zurück in Tribschen erwarten Richard und Cosima Wagner keineswegs eine völlig neue Kultur, aber umso bestimmter die alte: Friedrich Nietzsche zu Weihnachten. Doch der sagt ab. Mag sein, er braucht Abstand. Er will mit dem, was er da gehört hatte, allein sein. Auch muss er gleich mehrere Vorträge über die Erziehung der Jugend vorbereiten. Noch in der Nacht des Konzerts ist er nach Basel zurückgefahren, sein Reisebegleiter war Ludwigs Kammerherr, der bayerische Hauptmann von Baligand.
    Die Tribschener sind verstimmt. Man kann Weihnachten nicht absagen. Und es wird ihr letztes hier am See sein. Schon im Mai werden sie nicht mehr da sein. Aber eben das ist es: Er muss sich einüben in das Leben ohne sie. Er muss sich davon überzeugen, dass es ein Leben gibt ohne die Insel der Glückseligen. Und da ist ein letzter Grund: Sie können nicht zusammen in Tribschen erscheinen, seine Musik und er. Die Wagners sind auf so etwas nicht vorbereitet, er ist es auch nicht. Er hat Angst vor dem Ausdruck der Überraschung in ihren Gesichtern. Es ist vollkommen klar: Entweder seine Musik kommt oder er.
    Mir gieng es wie einem, dem eine Ahnung sich endlich erfüllt. Denn genau das ist Musik und nichts sonst!, hatte der Weihnachtsflüchtling gesagt. Aber die Tribschener hatten gar keine Ahnung. Ein komponierender Professor! Das soll Musik sein? Cosima und Hans Richter spielen vierhändig den »Nachklang einer Sylvesternacht«. Die Mienen der Ausführenden wie der Umsitzenden versteinern. Jakob, der Diener, bleibt vor Schreck stehen, vergisst das Abräumen. Das soll Musik sein? Wahrscheinlich stellt er das Geschirr, das er schon in der Hand hält, gleich wieder ab. Und Hagen auf der Wacht kann auch nicht anders ausgesehen haben als der Hausherr jetzt. Niemand sagt ein Wort. Cosima und Richter spielen, zu allem entschlossen, weiter. Wagner verlässt den Raum. Jakobs Miene umfinstert sich in einer, gemessen an seiner Stellung im Haus beinahe schon anstößigen Weise. Dann plötzlich kehrt das Leben in den Dienstmann zurück, er greift er nach Tellern und Schüsseln und geht mit den Worten »Schint mir nicht gut!« aus der Tür. Cosima und Richter können vor Lachen nicht weiterspielen. Ja, hätten sie wenigstens eine Ahnung gehabt! Der Augenblick ihrer Erfüllung hätte sie gefasster gefunden. Da verkehre man nun schon Jahre mit diesem Menschen, »ohne dergleichen zu ahnen; und nun kommt er meuchlings, die Partitur im Gewande«, fasst Richard Wagner seinen musikalischen Eindruck zusammen. 254

ZWEITER AUFZUG:
DISTANZEN
    Cosima, wenn das Kunstwerk der Zukunft
eine Chimäre wäre!
    Richard Wagner zu seiner Frau am 29. September 1870
    W(agner) gehörte zu der Art Menschen,
welche man durch Worte tödten kann.
    Friedrich Nietzsche über Richard Wagner

Friedrich Nietzsche 1873,
das »Seeräuber«-Bild.
    Der Savonarola Niederbayerns
    Kultur – Herrschaft der Kunst über das Leben.
    Friedrich Nietzsche, Anfang 1873
    Den letzten Philosophen nenne ich mich, denn ich bin der letzte Mensch. Niemand redet mit mir als ich selbst, und meine Stimme kommt wie die eines Sterbenden zu mir. Mit dir, geliebte Stimme, mit dir, dem letzten Erinnerungshauch alles Menschenglücks, laß mich nur eine Stunde noch verkehren, durch dich täusche ich mir die Einsamkeit hinweg und lüge mich in die Vielheit und die Liebe hinein, denn mein Herz sträubt sich zu glauben, daß die Liebe todt sei, es erträgt den Schauder der einsamsten Einsamkeit nicht und zwingt mich zu reden, als ob ich Zwei wäre.
    Höre ich dich noch, meine Stimme? Du flüsterst, indem du fluchst? Und doch sollte dein Fluch die Eingeweide dieser Welt zerbersten machen! Aber sie lebt noch und schaut mich nur noch glänzender und kälter mit ihren mitleidslosen Sternen an, sie lebt, dumm und blind wie je vorher, und nur eines stirbt – der Mensch. – Und doch! Ich höre dich noch, geliebte Stimme! Es stirbt noch einer ausser mir, dem letzten Menschen, in diesem Weltall: der letzte Seufzer, dein Seufzer, stirbt mit mir, das hingezogene Wehe! Wehe! geseufzt um mich, der Wehemenschen letzten, Oedipus. 295
    Er experimentiert mit der Einsamkeit. Er klingt, ganze zehn Jahre vorher, schon fast wie Zarathustra, von dem er noch nichts weiß. Das Fragment heißt »Oedipus. Reden des letzten Philosophen mit sich selbst«.
    Keine Stimme dringt mehr zum letzten der Wehemenschen? Genau so ist es. Die beiden Bayreuther Wehemenschen schweigen. Außer dem Marschbefehl

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