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Nietzsche und Wagner: Geschichte einer Hassliebe

Nietzsche und Wagner: Geschichte einer Hassliebe

Titel: Nietzsche und Wagner: Geschichte einer Hassliebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kerstin Decker
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Aufführungs-Cyclus. … Liebe Schwester … Ich weiss ganz genau, daß ich es dort nicht aushalten kann … Ich fühle mich von dem kurzen Aufenthalte dort so ermüdet und erschöpft, ich komme gar nicht wieder recht zu mir. Klingenbrunn sei sehr gut, tiefe Wälder und Höhenluft. Hier will ich bleiben, 10 Tage vielleicht, aber nicht wieder über Bayreuth zurückkehren. 383 Denn dazu wird er dann kein Geld mehr haben, Gott sei Dank. Sein Gasthaus heißt »Zum Ludwigsstein«.
    Sind die Tage in Klingenbrunn die schwersten seines bisherigen Lebens? Es spricht vieles dafür. Ich muß alle Fassung zusammen nehmen, um die grenzenlose Enttäuschung dieses Sommers zu ertragen, sagt er der Schwester, und sagt es wohl mehr zu sich selbst.
    Zwölf Jahre später hat er sie gefunden: Die Anfänge von »Menschliches. Allzumenschliches« gehören mitten in die Wochen der ersten Bayreuther Festspiele hinein; eine tiefe Fremdheit gegen Alles, was mich dort umgab, ist eine seiner Voraussetzungen, verrät er wohlgelaunt im »Ecce homo«: Wer einen Begriff davon hat, was für Visionen mir schon damals über den Weg gelaufen waren, kann errathen, wie mir zu Muthe war, als ich eines Tages in Bayreuth aufwachte. Vielleicht hätte er noch deutlicher werden sollen? Er, nicht Richard Wagner, hat »Richard Wagner in Bayreuth« geschrieben. Er, nicht Richard Wagner, hat diesen zum End-, Wende- und neuen Anfangspunkt der Kultur erklärt. Richard Wagner, der Künstler, wollte eine Aufführung seines Werks, die seinem Ideal genügt. Friedrich Nietzsche wollte mehr. Dieses »Mehr« war bisher nicht thematisch, es war gleichsam der gemeinsame Äther zwischen ihnen. Nietzsche erwartete alles von ihm. Ein Alleserwarter kann nur enttäuscht werden, und das eigentliche Phänomen – das Unwahrscheinliche, das Außerordentliche ist, dass es bisher nie geschah. Nicht das Mannheimer Konzert, nicht die Grundsteinlegung hatten etwas gemindert, im Gegenteil, sie waren ein beglückendes Mehr gewesen. Realer als alle Wirklichkeit.
    Hatte er gemeint, es werde so sein wie vor vier Jahren, als der Autor der »Geburt der Tragödie« wie ein Weltgeist inkognito unter den Begründern Bayreuths umherging? Nicht er, sein taghelles Bewusstsein hatte wohl den Wiederholungsfall erwartet, umso mehr vielleicht seine Seele, die große Nichtdenkerin. Das macht es nur schlimmer. Darum trifft es ihn nun härter. Und zu allem anderen bekommt er in Klingenbrunn auch noch den Durchfall.
    Der allzu souveräne Ton des »Ecce homo« muss wohl als mutwillige Selbst- und Fremdtäuschung gelten, und Friedrich Nietzsche wäre nicht Friedrich Nietzsche, wenn er nicht auch das wüsste. Aber er verbirgt es unter der Pose des überlegenen Spottes: Wo war ich doch? Ich erkannte Nichts wieder, ich erkannte kaum Wagner wieder. Umsonst blätterte ich in meinen Erinnerungen. Tribschen – eine ferne Insel der Glückseligen: kein Schatten von Ähnlichkeit. Die unvergleichlichen Tage der Grundsteinlegung, die kleine zugehörige Gesellschaft, die sie feierte und der man nicht erst Finger für zarte Dinge zu wünschen hatte: kein Schatten von Ähnlichkeit. Was war geschehn ? Ma n hatte Wagner ins Deutsche übersetzt! Der Wagnerianer war H err über Wagner geworden. – Die deutsche Kunst! Der deutsch e Meister! Das deutsche Bier! 384
    Der Abgrund steht schon jetzt offen; die Festspiele haben noch gar nicht begonnen. Der Abgrund ist sein eigener. Auch Ludwig verstummt zusehends. Auch Ludwig reist ab, bevor die Festspiele begonnen haben, in der Nacht nach der Probe zur »Götterdämmerung«. Auch Ludwig hat Angst vor den Wagnerianern. Vor allem aber hat er keine Lust, dem deutschen Kaiser in die Arme zu laufen.
    Nietzsche und Ludwig, sind sie nicht Gleichhörende, selbst wenn ihre Gabe, das auszudrücken, sehr verschieden sein sollte? Ludwig war anders verstummt als Friedrich Nietzsche; am 12. August schreibt er es dem Festspieldirektor: »Mit großen Erwartungen kam ich hin und, so hochgespannt dieselben auch waren, alle wurden weit, weit übertroffen. Ich war so tief ergriffen, daß ich wohl recht wortkarg Ihnen erschienen sein mag! O Sie verstehen es, die Grundvesten zu erschüttern … Ha, jetzt erkenne ich Sie wieder, die schöne Welt, der ich entrückt, der Himmel blickt auf mich hernieder … Sie sind ein Gottmensch, der wahre Künstler von Gottes Gnaden, der das heilige Feuer auf die Erde brachte, um sie zu läutern, zu beseligen, zu erlösen! Der Gottmensch, der in Wahrheit nicht fehlen und

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