Nietzsche und Wagner: Geschichte einer Hassliebe
unbenutzt verstreichen lassen. 391
Überlegen? Es gibt Dinge, in denen ist mit Theorie nichts auszurichten. Zu beachten ist der tief resignierte Ton, wie man ihn dem Unausweichlichen gegenüber hat. Vorfreude klingt anders. Nietzsche fuhr fort: … und doch weiß ich längst, daß ohne dieses – vielleicht vermeidet er nicht ganz zufällig ein direkteres Wort, denn sollte man die kostenlose Anstellung einer Krankenschwester auf Lebenszeit wirklich Ehe nennen? – dass also ohne dieses nicht einmal auf eine Milderung meiner Leiden zu rechnen ist.
Mag sein, dass Richard Wagner jetzt im Herbst besonders an den Freund denken muss, schließlich hat er am 15. Oktober Geburtstag. Und eben an dessen Vorabend erreicht die Bayreuther wie schon so oft ein Brief des Geburtstagskindes, darin befinden sich eine Fremdabhandlung über den »Ring« sowie Nachricht von der Gesundheit des Absenders, die eine bedenklicher als die andere. Und so entscheidet sich Richard Wagner – anstatt dem Geburtstagskind wie üblich nur Glück und Gesundheit zu wünschen – für die aktive, entschlossene und absolut kompromisslose Beförderung Letzterer.
Zu den Fakten. Der Verfasser des Traktats über den »Ring« ist der Frankfurter Mediziner Otto Eiser, Gründer des dortigen Wagner-Vereins. Vielleicht könnten die Empfänger das hermeneutische Dokument schon deshalb einmal lesen, empfiehlt Friedrich Nietzsche, auch wenn der Mann ganz unlitterarischer Art sei und seine Schrift dem allerengsten Publicum angepaßt 392 . Besonders unterhaltsam findet Nietzsche die Überlegungen des Mediziners, wo Wotan sein Auge verloren haben könnte. Vielleicht mache der Meister eine Anmerkung dazu?
Wotans Auge war der Preis dafür, dass er eine Frau nehmen konnte, Fricka, mit der er dann nur noch Ärger hatte. Außerdem ist der Anblick des Rheingolds gewöhnlichen Nervensystemen unzuträglich. Es blendet. Nicht nur Menschen, auch Götter. Wotan hat seine Besitzlust ein Auge gekostet. Immerhin, eins hat er noch, der unglückliche Absender aber wird wohl alle beide verlieren. Das weiß er von demselben exegetisch minderbegabten Arzt. Dabei hat er nie verbotene Reichtümer angeschaut, kein fremdes Gold gewollt, ja nicht einmal eine Frau. Und der Preis dafür sind beide Augen? Oder sollte das sein Problem sein?
Wotan, der Rheingoldbetrachter, der Fricka-Verführer, und Friedrich Nietzsche gehören demnach gegensätzlichen Risikogruppen an.
Otto Eiser hatte sich im vergangenen Frühjahr keinesfalls als Mediziner an den Noch-Chefdenker aller Wagnerianer gewandt; er beabsichtigte vielmehr, ihn in bewundernder Absicht zu einem »Festvortrag« einzuladen.
Der Gründer des Frankfurter Wagner-Vereins hatte zuerst »Richard Wagner in Bayreuth« gelesen, um – geistig enthusiasmiert – in der Folge jede seiner Veröffentlichungen aufzuspüren. Nietzsche ist krank und in Sorrent, erfuhr Eiser; doch begegneten beide sich in diesem Sommer in der Schweiz.
Friedrich Nietzsche war sofort beeindruckt: In Meiringen fand ich bei Tisch einen Dr. med. Eiser aus Frankfurt, der alle meine Schriften im Berner Oberland herumführte. 393 Mit Erstaunen erfuhr der Gründer des Frankfurter Wagner-Vereins, dass der unpässliche Referent noch nie umfassend untersucht worden sei, gewissermaßen geprüft auf Augen, Herz und Nieren. Eben das hat Eiser – assistiert von zwei Kollegen – nun Anfang Oktober nachgeholt. Wie sollte der Kranke einem Mann misstrauen, der nicht ohne seine Nietzsche-Gesamtausgabe auf Reisen geht?
Am Ergebnis besserte das jedoch nichts. Nicht nur, dass der Arzt seinem Patienten die Blindheit als recht unvermeidlich ankündigte, auch seine rasenden Kopfschmerzen, so Eiser, ließen sich mit höchster Wahrscheinlichkeit auf entzündliche Prozesse in beiden Augen zurückführen. Von der Magen-Diagnose war nichts mehr übrig. Aussicht auf Besserung: keine. Aussicht, den Prozess aufzuhalten, nur in dem Fall, dass der Unheilbare sich auf mehrere Jahre hinaus verpflichtet, weder zu lesen , noch zu schreiben 394 . Aber was ist ein Professor, der weder lesen noch schreiben darf? Das fragt Nietzsche die Bayreuther Freunde nicht – er darf sich darauf verlassen, dass sie es selbst tun werden.
Sinn für letzte Unabänderlichkeiten und Verfügungen des Schicksals besitzt Richard Wagner wohl in seiner Musik, im Leben nicht.
Die Situation gebietet, alles zu versuchen. Sie gebietet gewissermaßen letzte Mittel, und der Bereich des Lebens, egal ob in der großen oder der kleinen
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