Nietzsche und Wagner: Geschichte einer Hassliebe
nur noch mit allen Ober- und Untertönen des Spottes zu äußern –, war er sehr überrascht, wie die Oblatenausteilung dennoch auf sein Gemüt wirkte, wie ganz und gar verstandeswidrig: »die Schauer der Empfindung bei Darreichung und Empfang des Brotes und des Weines sind mir in so unvergessener Erinnerung geblieben, daß ich, um der Möglichkeit einer geringeren Stimmung beim gleichen Akte auszuweichen, nie wieder die Veranlassung ergriff zur Kommunion zu gehen, was mir dadurch ausführbar ward, daß bekanntlich bei den Protestanten kein Zwang hierzu besteht« 388 . Mit dieser Motivation dürfte Richard Wagner zu einer ausgesprochenen Splittergruppe der bekennenden Abendmahlsabstinenzler gehören; vielleicht ist er gar ihr einziges Mitglied. Er hatte dieses Bekenntnis bereits in seiner Autobiografie abgelegt; Friedrich Nietzsche als erster Leser und Korrektor sollte es kennen. Aber er zeigt sich überrascht.
Das heilige Abendmahl. Friedrich Nietzsche ist magenkrank, das mag sein, aber bei dieser Diät muss sich sein Geist übergeben. Hat der Musikant der Zukunft wirklich vor, in diesem Vorgestern zu enden? Als Richard Wagner mir gar von dem Genusse zu sprechen begann, den er dem christlichen Abendmahle (dem protestantischen) abzugewinnen wisse, da war es aus mit meiner Geduld. 389 Sieht Wagner ihm das an? Dem unglücklichen Basler Philosophiedozenten, der zum Katholizismus übertreten wollte, gedachte Friedrich Nietzsche vormals mit kalten Sturzbädern zu helfen. Wie hilft man Richard Wagner? Oder spricht dieser ebenso wenig über den »Parsifal« wie Friedrich Nietzsche über das neue Buch, an dem er gerade schreibt?
Diesmal will er nichts vorlesen.
Am 7. November verlassen Cosima und Richard Wagner überraschend Sorrent.
Es war ihre letzte Begegnung. Sie wissen es beide nicht.
Hieronymus Bosch,
Der Garten der Lüste,
1500, Teilansicht.
Der Patient und seine Symptome
Er muß heiraten oder eine Oper schreiben!
Wagner hatte die Alternative schon vor Jahren deutlich benannt. Der Freund komponierte aber inzwischen weder die Oper, noch nahm er eine Frau, und er ist inzwischen noch viel kränker geworden als er ohnehin schon war. Dies ist der Stand im Oktober 1877.
Selbstheilung durch Musik gelingt nicht jedem, weiß Richard Wagner. Ihm schon. Was gehen ihn die Festspiele an und ihr Defizit? Festspiele können Bankrott machen, er nicht. Er fing zu Beginn des Jahres einfach mit dem »Parsifal« an. Immer wieder hatte Ludwig ihm gesagt, wie sehr er auf dieses Werk wartet. Und wartet er selbst nicht auch darauf? Auch er braucht Trost, viel Trost sogar. Im »Parsifal« ist welcher, er muss ihn nur noch komponieren, dann kann er ihn hören.
Bei Friedrich Nietzsche liegen die Dinge offenbar anders. Cosima hat die Art seiner Produktivität unlängst analysiert und gelangte zu dem Befund, dass in Nietzsche ein dunkler, produktiver Grund wirksam sein müsse, von dem er selbst kein Bewusstsein habe, aber dieser mache ihn bedeutend, »während alles, was er denkt und spricht, was lichterhellt ist, wirklich nicht viel wert ist«. Das Erdhafte und das Sonnenhafte, das Tellurische und das Solarische, Kategorien der Zeit, in gewissem Sinne Unterbietungen von Nietzsches Dialektik des Apollinischen und des Dionysischen, erst recht in Cosimas Gebrauch: »Das Tellurische an ihm ist wichtig, das Solarische ist unbedeutend und durch den Kampf mit dem Tellurischen selbst beängstigend und unerquicklich.« 390 Hört sich an wie Stuss, ist welcher. Es vereinfacht das Verständnis, wenn man sich Cosimas »Solarisches« schlicht mit allem übersetzt, worin Wagner und Nietzsche anderer Meinung sind.
Aber selbst Nietzsches »Tellurisches« ergäbe noch lange keine Oper; bleibt der erste Weg der Heilung; die Andeutung eines zweiten geschah ohnehin nur aus Taktgefühl, Höflichkeit sowie der Einsicht geschuldet, dass der Mensch immer eine Alternative haben sollte. Dabei hat der Freund im vergangenen Sommer durchaus komponiert, wahrscheinlich noch immer am Hymnus an die Einsamkeit, um dieselbe in ihrer ganzen schauerlichen Schönheit zu fassen. Womit sich der Kreis in zu missbilligender Weise schließt.
Dabei ist der Kritisierte nicht einmal renitent; er sieht auf Nach frage noch immer ein, dass er eine Frau suchen muss. Und sieht sich doch außerstande anzufangen. Der mütterlichen Freun din Malwida von Meysenbug bekannte er eben erst das ganze Ausmaß seiner Fehlbarkeit: Ich hatte wieder ein ganzes Jahr zum Überlegen und habe es
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