Night School 01 - Du darfst keinem trauen
vermeiden lässt. Und wovor haben die Leute am meisten Angst? Vor dem Tod.«
Allie stierte auf ihren Schreibtisch, doch sie wusste, ohne aufzusehen, dass Carter sie anstarrte.
»Zelazny ist vielleicht ein Wichser!« Jo war stocksauer. »Du bist doch höchstens zwei Minuten zu spät gekommen. Ich weiß nicht, wieso er dir das gleich in deiner ersten Woche antut.«
Wie sich herausstellte, war es Jos Französischlehrer gar nicht aufgefallen, dass sie zu spät gekommen war, weil er gerade mit ein paar fortgeschrittenen Schülern eine bevorstehende Klassenfahrt nach Paris besprochen und gar nicht bemerkt hatte, dass die Stunde eigentlich schon angefangen hatte. Allie würde den Arrest also allein durchstehen müssen. Jo hatte wenig tröstliche Worte für sie.
»Ich hab schon so oft Arrest aufgebrummt bekommen, dass ich gar nicht mehr mitzähle. Das ist eben ein Riesending hier, weil die Regeln so streng sind, und wehe, man übertritt sie nur ein winziges bisschen …« Sie formte eine Pistole mit den Fingern und feuerte in die Luft. »Es sind immer mindestens zehn Schüler. Aber die Arbeit ist verdammt hart. Also zieh dich warm an.«
Allie sah verblüfft drein. »Ich dachte, wir müssten irgendwie nachsitzen: lesen und schreiben.«
»Oh nein, doch nicht in Cimmeria«, versetzte Jo ironisch. »Hier ist das harte Arbeit. Die lassen dich irgendwas anstreichen oder Unkraut jäten, was anpflanzen, ausholzen – was weiß ich. Jedenfalls wirst du ziemlich ins Schwitzen kommen. Es dauert nicht lang, nur ein paar Stunden, aber die können wahnsinnig zäh werden, wenn sie dir irgendeinen Deppenjob geben. Aber wenigstens lernst du so die anderen Unruhestifter kennen.«
Allie rollte mit den Augen. »Na, toll. Ich bin ja echt ein Glückspilz. Als ob ich nicht schon genug Unruhestifter kennen würde.«
Sie hatten zu Abend gegessen und waren danach noch etwas sitzen geblieben. Die meisten Mitschüler hatten den Speisesaal bereits verlassen. Jo warf einen Blick durch den beinahe leeren Raum. »Nichts wie raus hier. Warst du überhaupt schon mal draußen auf dem Schulgelände? Oder warst du die ganze Zeit hier eingesperrt, mit mir und lauter verstaubten Büchern?«
Sie hakte sich bei Allie unter, und sie verließen gemeinsam den Speisesaal. Vor ihnen gabelten sich die Schülerströme; Allie und Jo folgten einem Nebenfluss Richtung Eingangsportal.
Sie gingen ins Freie und spazierten über die Zufahrt, die im Abendlicht den Elfenbeinglanz von vorgestern verloren hatte. Jetzt sah sie einfach nur aus wie ein gewöhnlicher Kiesweg. Das gepflegte Grün dehnte sich in alle Richtungen, und als sie und Jo den Schulrasen betraten, schienen die langen Schatten der Bäume nach ihnen zu greifen.
»Was macht denn Gabe heute Abend?«, fragte Allie.
»Er sitzt an irgend so einem Spezialprojekt. Wahrscheinlich wird er bis zur Nachtruhe damit beschäftigt sein.« Jo lächelte nachsichtig. »Reicht dir die Info?« Sie deutete auf eine Reihe Kiefern am Ende der Rasenfläche vor dem Ostflügel. »Siehst du den Weg zwischen den Bäumen da drüben?« Allie konnte mit Mühe einen schmalen Pfad erkennen, der in den Wald führte. »Dort geht’s zur Kapelle. Da musst du morgen hin.«
Dann deutete sie in die entgegengesetzte Richtung auf einen Weg, der vom Westflügel des Schulgebäudes zu den Bäumen führte.
»Da drüben«, sagte sie, »kommt irgendwann ein Pavillon, gleich hinterm Waldrand. Manchmal picknicken wir da.«
»Und was ist weiter drinnen im Wald?«
Jo sah sie spöttisch an. »Bäume vielleicht?«
Allie lachte. »Nein, ich meine, gibt es da noch mehr Gebäude? Oder Sachen, die man machen kann …?«
»Ich glaube, es gibt noch ein paar Häuser weiter hinten, wo irgendwelche Angestellten und Lehrer wohnen, aber ich bin mir nicht sicher. Wir gehen eigentlich nicht so oft in den Wald, und es wird auch nicht so gern gesehen, aus … weiß nicht, Gesundheits- oder Sicherheitsgründen oder so. Die Kapelle wird dir aber gefallen. Die ist richtig alt.«
Am Westflügel vorbei gelangten sie auf die Rückseite des Gebäudes, wo eine Steintreppe ihren Anfang nahm. Sie führte durch eine Reihe terrassenförmig angelegter Grünflächen, die von farbenfrohen Blumen gesäumt waren, nach oben. Jenseits der letzten Grasfläche stieg das Gelände plötzlich steil an, hin zu einem leicht bewaldeten Hügel.
»Da oben ist ein Turm«, sagte Jo und deutete Richtung Hügel. Allie konnte in der Ferne nur undeutlich ein Gebäude ausmachen. »Anscheinend
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