Night School 02 - Der den Zweifel saet
können das nicht erkennen. Sie sehen in ihm nur einen, der sagt, was sie hören wollen …«
»Du weißt so viel über Nathaniel«, sagte Allie, »kennst du ihn denn? Oder … hast du mal was mit ihm zu tun gehabt?«
Die Rektorin dachte lange nach, ehe sie antwortete.
»Ich hab Nathaniel mal sehr gut gekannt«, sagte sie langsam, als würde sie ihre Worte mit großem Bedacht wählen. »Du musst wissen, dass Nathaniel mein Stiefbruder ist.«
Allie erstarrte. »Was?!«
»Deshalb verstehe ich auch so gut, was zwischen dir und Christopher abläuft«, fügte Isabelle hinzu. »Ich habe etwas Ähnliches durchgemacht.«
Wieso hat sie das nie erwähnt?
Allie kam sich betrogen vor. Doch sie versuchte, sich auf das Gespräch zu konzentrieren. »Habt ihr zwei euch denn mal … nahe gestanden?«
»Ja, vor langer Zeit. Aber Nathaniel wollte Dinge, die er nicht haben konnte, und hat mich dafür verantwortlich gemacht.«
Allie sah sie fragend an.
Widerstrebend fuhr Isabelle fort: »Bei seinem Tod hat mein Vater alles mir hinterlassen. Geld, Immobilien und Firmenbesitz … alles. Er hielt Nathaniel für zu instabil, um verantwortungsvoll damit umzugehen.« Sie nestelte an ihrer Brille. »Das Testament sieht vor, dass ich Nathaniel einen beträchtlichen jährlichen Betrag auszahlen muss – für ihn ist also gut gesorgt. Aber das hat ihm nichts bedeutet. Er hat nur die Demütigung gesehen, die Zurückweisung. Das hat Nathaniel mir nie verziehen. So einfach ist das. Und jetzt will er mehr.«
»Isabelle«, sagte Allie leise. »Was genau ist das, was Nathaniel will?«
Die Rektorin dachte lange nach. Dann antwortete sie resigniert:
»Alles.«
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Fünfundzwanzig
Wenn Allie darüber nachdachte, ließ sich ihr Leben in der Cimmeria Academy immer eindeutig in zwei Epochen einteilen: vor dem Sommerball und danach. Vor Carter und danach.
Und nun: vor
Wahrheit oder Pflicht
. Und danach.
Vor Wahrheit oder Pflicht war sie ein Niemand gewesen. Ein Eindringling.
Und seitdem? War sie ein Star.
Wenn sie einen Raum betrat, drehten sich die anderen nach ihr um und starrten sie an. Wenn sie redete, hörten sie wie gebannt zu. Schüler, die sie gar nicht kannte, waren plötzlich unglaublich zuvorkommend.
Nur diejenigen, die sie gut kannten, blieben davon unbeeindruckt.
»Das ist schon grotesk«, sagte Rachel eines Tages, nachdem ein euphorischer Schüler aus den unteren Klassen Allie unbedingt eine Tasse Tee mit Keks hatte bringen wollen, nur weil er mitbekommen hatte, wie sie sagte, sie sei hungrig. »Das wird dir noch zu Kopf steigen.«
»Wohl eher an meinen Hüften ansetzen, vermute ich mal«, sagte Allie genüsslich schmatzend.
»Oh, Allie, darf ich deine Bücher schleppen? Hast du noch einen Wunsch? Darf ich dir Lipgloss auftragen?«, alberte Rachel herum. »Deine Haare müssen schrecklich schwer sein. Darf ich sie für dich tragen?«
»Nur kein Neid!« Allie bot ihr den halben Keks an, den Rachel widerstrebend annahm. »Das passt gar nicht zu dir. Außerdem wird das bestimmt nicht immer so bleiben … Oder doch?«
»Ich will’s nicht hoffen«, antwortete Rachel kauend. »Obwohl dieser Keks überaus delikat ist. Ob der Knabe uns wohl noch mehr davon bringen könnte?«
»Das schlag dir mal gleich aus dem Kopf«, entgegnete Allie. »Wow, bist du leicht korrumpierbar. Machst alles für einen Keks.«
»Zwei«, berichtigte Rachel sie. »Für zwei Kekse mach ich alles.«
Leider waren Rachel und Zoe die Einzigen, mit denen sie darüber lachen konnte. Jo war immer noch sauer auf sie. Und ansonsten bestand ihr Leben aus nichts als Anspannung und Furcht. Und Trauer.
Christopher hatte nicht wieder von sich hören lassen, obwohl er versprochen hatte, sich wieder mit ihr in Verbindung zu setzen. Und sie hatte weder Rachel noch Zoe erzählt, was eigentlich hinter alldem steckte. Rachel durfte sie es nicht erzählen, und Zoe war noch ein Kind. Doch mit den Wochen, die vergingen, fiel ihr das immer schwerer, weil ja auch sonst keiner mehr da war, mit dem sie darüber hätte reden können.
Noch immer konnte sie nicht weinen. Nicht mehr seit dem Tag in der Bibliothek mit Carter. Es war, als hätten ausgerechnet jetzt, wo sie sie am meisten brauchte, alle Tränen sie im Stich gelassen.
»Da kann doch irgendwas nicht mit mir stimmen, wenn ich nicht weinen kann«, sagte sie zu Rachel. »Vielleicht bin ich krank. Vielleicht hab ich irgendeine Krankheit.«
»Sjögren-Syndrom.« Rachel, die mal Ärztin werden wollte, schaute nicht
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