Night School 02 - Der den Zweifel saet
wahrscheinlich der Einzige.«
»Ich hab ihr nur die Wahrheit gesagt.« In seinen kobaltblauen Augen brach sich das Licht eines nahe gelegenen Fensters. »Für mich war es offensichtlich, dass …« Ein junger Schüler lief an ihnen vorbei. Sylvain senkte seine Stimme. »Wo wolltest du gerade hin, Allie? Vielleicht sollten wir erst mal von dieser Treppe runter.«
Sie stiegen die Stufen hoch bis zum ersten Stock, wo Sylvain in eine Fensternische trat, um dem Trubel zu entkommen. Hier waren sie vergleichsweise ungestört. Nach kurzem Zögern folgte Allie ihm.
Doch als sie dort nebeneinander standen, wusste keiner von beiden so recht, was er sagen sollte.
»Alles in Ordnung?«, fragte Sylvain nach einer Weile.
Aus irgendeinem Grund bekam sie von seiner Frage schlechte Laune.
Wieso sollte es
ihr
nicht gut gehen?
Sie hatte ja nur Gabe durchs Fenster gesehen. Es war ja nicht so, als wäre sie in echter Gefahr.
»Klar ist alles in Ordnung«, sagte sie. »Ich hab bloß Angst und bin ein bisschen genervt. Ich kann’s nicht leiden, wenn man mir hinterherspioniert, und ich kann’s nicht leiden, wenn man mich eine Lügnerin nennt.«
Sein Mundwinkel zuckte nach oben. »Sorry. Ich bin davon ausgegangen, dass alles in Ordnung ist, aber ich wusste nicht, was ich sonst sagen sollte. Die Umstände sind ja schon ziemlich sonderbar.«
»Schon gut«, sagte sie besänftigt. »Wenigstens hältst du mich nicht für verrückt, das ist ja auch schon was.«
»Man kann viel über dich sagen, Allie, aber nicht, dass du verrückt bist.« Sylvains Lächeln war ansteckend, und sie ertappte sich dabei, wie sie zurücklächelte – trotz allem, was gerade passiert war. Doch dann wurde ihr wieder der Ernst der Lage bewusst, und ihr Lächeln erstarb.
»Irgendwer muss Gabe doch geholfen haben, oder, Sylvain? Irgendwer ganz oben.« Sie schaute ihm prüfend in die blauen Augen, doch da war keine Überraschung.
»Wir wissen schon seit einer Weile, dass irgendwer – ein Lehrer, älterer Schüler, Night-School-Ausbilder – für Nathaniel arbeitet.«
Allie lief es eiskalt den Rücken runter. Bei der Vorstellung, Zelazny oder Eloise könnten für Nathaniel arbeiten, bekam sie eine Gänsehaut. »Ich kann das einfach nicht glauben«, hauchte sie. »Dass einer von uns das tun würde.«
»Das kann keiner«, erwiderte Sylvain leise. »Und das ist genau das Problem. Es muss jemand sein, dem wir vertrauen. Sonst würden wir es ja durchschauen. Das macht die Sache so schlimm.«
Allie legte die Arme um ihren Körper und holte tief Luft. »Wieso tun die das, Sylvain? Kannst du mir das sagen? Nathaniel und seine Leute – was wollen die so unbedingt haben?«
Sylvains Augen verdunkelten sich, und er blickte aus dem Fenster, ehe er sie wieder ansah. »Etwas, das wir ihnen nicht geben können.«
Ohne nachzudenken, packte sie ihn am Arm. »Du weißt es doch, oder? Du weißt doch, worum es wirklich geht.«
Für einen Moment vergaß er seine Zurückhaltung. Sein Blick schnellte von ihrer Hand zu ihren Augen. Die Art und Weise, wie er sie anschaute, verschlug ihr den Atem. Als striche er mit den Fingerspitzen über ihre Haut.
Sie ließ die Hand fallen und senkte die Lider. Als sie wieder aufzuschauen wagte, war der Ausdruck von was auch immer es gewesen war aus seinem Blick verschwunden. »Ja, ich weiß einiges, was du nicht weißt, Allie«, sagte er mit ausdruckslosen Augen. »Aber ich bin auch schon länger hier. Meine Familie steckt in alldem mehr drin, als du dir vorstellen kannst.«
»Ach ja?« Sie hatte genug von der Geheimniskrämerei. Von den Lügen. Und seine vagen Andeutungen brachten sie auf die Palme. »Da wär ich mir mal nicht so sicher«, blaffte sie ihn an und stolzierte davon.
Als sie am selben Abend beim Training aufkreuzte, füllte sich der Raum bereits, doch es war nicht so voll wie tags zuvor. Carter und Sylvain waren nirgends zu sehen.
Allie dehnte ihre Oberschenkelmuskeln und wartete auf den Beginn der Trainingsstunde. Sie war so in Gedanken vertieft, dass sie es kaum wahrnahm, als Zoe auftauchte.
»Ich kann’s gar nicht glauben, dass du beim Abendessen Gabe gesehen hast. Du Glückspilz!«
Allie schnaubte ungläubig. »Ich fühl mich eher nicht wie ’n Glückspilz.«
»Solltest du aber.« Zoe ließ sich neben ihr auf den Boden fallen und machte Dehnübungen. Allie bewunderte ihre Beweglichkeit, als sie mühelos den Kopf zum Knie führte und mit den Händen ihren kleinen Fuß umfing. »Alle suchen nach ihm, und du hast ihn
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