Letzte Bootsfahrt
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Da hätte Gasperlmaier nicht unbedingt dabei sein müssen. Wo er doch Begräbnisse überhaupt nicht ausstehen konnte. Schon allein der Trauermarsch löste in seinem Kehlkopf dieses seltsame Würgen aus, das ihm Tränen in die Augen trieb. Dabei hatte er die Voglreiter Friedl ja nicht einmal gut gekannt. Aber die trübseligen Mienen der Verwandten und Bekannten, die Blasmusik und das verhaltene Schluchzen seiner Mutter, die an seinem Arm hing und schon eine ganze Packung Papiertaschentücher aufgeweicht hatte, führten auch bei ihm selbst dazu, dass die Augen feucht zu glänzen anfingen.
Dabei, so dachte er bei sich, war ja die Friedl nicht unbedingt das gewesen, was man einen herzlichen Menschen nannte. Er konnte sich noch gut daran erinnern, wie sie immer gekeppelt hatte, wenn er und der Voglreiter Loisl, damals einer seiner besten Freunde, beim schönsten Wetter in dessen Zimmer gehockt waren und die Köpfe in Bessy- und Mickymaus-Hefterln gesteckt hatten, anstatt, wie Loisls Mutter es für vernünftig gehalten hätte, ihren Bewegungsdrang auf der Wiese, im Wald oder im Winter am Rodelhügel auszuleben. Einmal, so erinnerte sich Gasperlmaier, war sie ihnen sogar mit dem Besen nachgerannt, nur weil sie sich einen ganzen Wecken Brot aufgeschnitten, dick mit Butter bestrichen und mit Zwiebeln belegt hatten. Die Voglreiter-Küche hatte, das musste Gasperlmaier zugeben, nach dieser Jause zwar einigermaßen ausgeschaut, weil sie anscheinend nicht daran gedacht hatten, die Zwiebelschalen und die Brotbrösel wegzuputzen und die ganze Küchenkredenz überdies mit Butter verschmiert war, aber musste man deswegen gleich so einen Aufstand machen? Immerhin hatten sie sich selbst was zu essen hergerichtet und sich nicht wie die heutigen verwöhnten Fratzen im Auto zum Hamburger-Imbiss chauffieren lassen, damit sie dort ordentlich an ihren Speckrollen und an verfrühter Diabetes arbeiten konnten.
Jetzt war sie also tot, die Voglreiter Friedl, die zeitlebens über alles Mögliche und Unmögliche gejammert und geklagt hatte, und seine Mutter, die ja eine ihrer besten Freundinnen gewesen war, hing an seinem Arm und öffnete gerade das zweite Packerl Papiertaschentücher. Dass aber immer gerade dann, wenn Gasperlmaier so einen Pflichttermin auf dem Altausseer Friedhof wahrzunehmen hatte, ein derart grauenhaftes Wetter sein musste. Bald war Ostern, und dennoch pfiff ein eisiger Wind vom Loser herunter, dass es die Schneeflocken fast waagrecht zwischen den Gräberreihen hindurchtrieb. Gasperlmaier griff nach seinem Hut, der ihm davongeweht zu werden drohte. Zwischen dem Loisl und seiner Schwester, die vor ihnen am offenen Grab standen, konnte Gasperlmaier den Pfarrer sehen, der offenbar völlig unbeeindruckt vom Wetter ein Gebet nach dem anderen herunterratschte, während seine Soutane im Wind knatterte und sich sein schütteres, langes Haar, das er über die Glatze gelegt hatte, von derselben löste und wie ein grauer Wimpel in Richtung See hinunterflatterte. Gasperlmaier war froh, dass er seinen Schladminger angezogen hatte. Der war zwar so schwer und so steif, dass er damit nicht einmal Auto fahren konnte, aber bei einem solchen Wetter drangen weder Kälte noch Nässe durch den dichten Lodenstoff hindurch.
Endlich war es so weit, der Pfarrer trat vom Grab zurück, und der Sarg wurde in die Grube hinuntergelassen. Plötzlich gab es einen Aufschrei, einer der Männer, die an den Seilen standen, verlor den Halt auf dem schlammigen Boden, weil ein Erdbrocken unter seinen Füßen nachgegeben hatte und lautlos in der nassen Grube verschwunden war. Kurz hing der Sarg schräg im Schacht, bevor sich der Mann wieder aufrappelte und schließlich und endlich die Friedl doch sicher und wohlbehalten in ihrem Grab angekommen war.
Heulend trat Loisls Schwester ans Grab heran und warf einen Blumenstrauß und die übliche Schaufel Erde auf den Sarg hinunter. Gasperlmaier hielt nicht viel davon, Blumen in eine Grube zu werfen, die ohnehin am selben Tag noch zugeschüttet werden würde. Gleichzeitig aber erinnerte er sich daran, dass ihn seine Christine gelegentlich schalt, er nehme Gefühle oft ebenso wenig wahr, wie er sie zeige, sogar als direkt gefühllos hatte sie ihn anlässlich mancher Auseinandersetzung schon bezeichnet. Gasperlmaier war da ganz anderer Meinung, er hob sich seine Gefühle für Gelegenheiten auf, wo sie einen Sinn hatten. Wenn zum Beispiel eines seiner Kinder wieder einmal einen Pokal vom Skifahren heimbrachte,
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