Night School 02 - Der den Zweifel saet
Konsens hatten sie sich am Ende der Treppe voneinander getrennt, und jeder war seiner Wege gegangen.
Ihr war klar, dass sie nun die Mappe aufmachen und nachsehen musste, in wessen Intimsphäre sie eindringen sollte. Wessen Aufrichtigkeit sie in Zweifel ziehen sollte. Und wer sie vermutlich hassen würde, noch ehe die Woche herum war.
Eloise hatte gesagt, die zugeteilte Person werde jemand sein, den der Betreffende gut kenne.
Lange starrte Allie die Mappe an. Ein furchtbarer sechster Sinn sagte ihr, dass sie bereits wusste, was sie darin finden würde. Trotzdem verweigerten ihre Hände jede Bewegung.
Schließlich machte sie die Augen zu und griff blind nach der Mappe. Sie spürte die kühle, glatte Oberfläche des Deckels zwischen ihren Fingerspizen, ertastete den scharfen Grat an den Rändern – und schlug die Mappe auf.
Sie sandte ein stummes Gebet zum Himmel und öffnete die Augen.
Zwei Wörter, in akkurater schwarzer Schrift aufs weiße Papier geschrieben, starrten sie an:
»Carter West.«
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Zwölf
Allie nahm den Zettel in die Hand und sah ihn beschwörend an, als könnte sie so ändern, was darauf stand. Doch so lange sie auch hinsah, der Name blieb derselbe.
»Carter West.«
Sie drehte das Blatt mehrmals um. Doch abgesehen von dem vermaledeiten Namen, den sie dort als allerletzten lesen wollte, war es leer.
Dahinter fand sich allerdings ein zweites Blatt mit sauber getippten Anweisungen.
Nun, da dir dein Fall zugewiesen wurde, ist es erforderlich, die betreffende Person darüber zu informieren, dass du sie ausforschst. Versuch dabei, so wenig bedrohlich wie möglich aufzutreten. Biete ihr zum Beispiel zuerst mal einen Tee an. Oder verabrede dich mit ihr zum Mittagessen – achte in jedem Fall auf eine entspannte Umgebung. Dann setzt du deinen Interviewpartner darüber in Kenntnis, dass er dir zugewiesen wurde und du so bald wie möglich eine erste Befragung durchführen möchtest.
Mach dir während dieses Treffens sorgfältig Notizen – du musst sie zusammen mit dem abschließenden Untersuchungsbericht zur Prüfung einreichen. Fertige keine Kopien an.
Verwahre diese Mappe an einem sicheren Ort. Erlaube niemandem, sie einzusehen. Jeder Verstoß gegen diese Anweisung kann den Ausschluss aus der Night School nach sich ziehen, in schweren Fällen sogar den Verweis von der Schule …
Ein leises Klopfen an der Fensterscheibe störte ihre Lektüre. Draußen auf dem Sims stand Carter und starrte sie durchs Fenster an.
Hastig klappte Allie die Mappe zu. Kurz überlegte sie, Carter fortzuschicken und so zu tun, als wäre sie krank oder erschöpft. Irgendwas in der Art.
Da sie sich nicht rührte, deutete er auf den Fensterriegel und sah sie mit einem Nun-mach-schon-Blick an.
Widerstrebend krabbelte sie vom Bett und schob den Riegel zurück. Von einem kühlen Luftstoß begleitet, kletterte Carter auf den Schreibtisch, was bei seinen langen Beinen kein ganz leichtes Unterfangen war. Es regnete immer noch, sein dunkles Haar hing strähnig herunter, und das Wasser tropfte auf seinen blauen Pullover. Seine Wangen waren vor Kälte ganz rot.
Er sah umwerfend aus, obwohl er verärgert wirkte.
»Wieso dauert das denn so lang? Weißt du, wie eiskalt es draußen ist?«
»Sorry«, sagte sie und machte eine unbestimmte Geste. »Ich war grad mit … diesem Kram beschäftigt.«
Sein Blick verfinsterte sich, als er die Mappe auf ihrem Bett sah. »Ja, mit dem Kram habe ich mich auch gerade beschäftigt.«
»Ich find’s furchtbar«, sagte sie. »Müssen wir uns den Kram unbedingt antun?«
»Ja«, erwiderte er. »Aber das heißt nicht, dass der Kram unser Leben ruinieren muss. Wir bringen’s hinter uns, und dann beschäftigen wir uns wieder mit anderem Kram.«
»Das sagst du so einfach, aber die wollen, dass wir im Privatleben von jemandem herumschnüffeln.« Ihre Augen blitzten auf. »Dass wir dem anderen all unsere Geheimnisse verraten. Dass wir alles Peinliche, Verrückte oder Blöde offenbaren, alles was wir je getan haben, ohne es irgendwem zu sagen. Und im Grunde genommen, dass wir uns gegenseitig bezichtigen, Spione oder Lügner zu sein. Wie sollen wir das tun und weiterhin …« – jetzt erst wurde ihr bewusst, dass er ja noch gar nicht wusste, wer ihr zugeteilt worden war, und leise fuhr sie fort – »… Freunde bleiben?«
»Einfach machen«, sagte er. »Alle müssen da durch, deshalb sind wir alle in derselben Lage.« Er zog sie an sich. »Keine Sorge, Al. Das wird schon. Wen hast du
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