Night School 02 - Der den Zweifel saet
dürfen, floh sie aus dem Speisesaal, fest entschlossen, Carter aufzuspüren.
Ein kurzer Blick genügte ihr, um zu wissen, dass er weder in der Bibliothek noch im Aufenthaltsraum war. Sie überlegte schon, ob sie den Jungstrakt aufmischen sollte, als ihr schlagartig einfiel, wo er sein musste.
Sie holte tief Luft, dann trat sie durch die Tür in den Rittersaal und spähte ins Zwielicht. Staubpartikel hingen scheinbar unbeweglich in der Luft und trotzten den Gesetzen der Schwerkraft. Vor dem Kamin, der so groß war, dass sie leicht stehend Platz darin gefunden hätte, blieb sie stehen und suchte den Raum ab: mehrere leere Tische, hie und da ein Stapel Stühle.
Sie wollte sich schon wieder dem Ausgang zuwenden, als sie ein schleifendes Geräusch hörte und sich noch einmal umdrehte.
»Carter?«
Keine Antwort. Stattdessen wieder das Geräusch, es kam vom anderen Ende des Saals. Wie wenn einer beim Aufstehen seinen Stuhl über den Holzboden rückt.
Allie schloss kurz die Augen und atmete tief durch, dann ging sie zwischen den herumstehenden Möbelstücken hindurch auf die Stelle zu, wo sie das Geräusch vermutete. Auf halber Strecke nahm sie zu ihrer Linken eine Bewegung wahr.
»Wieso hast du mir nichts gesagt?« Er stand im Schatten, eine Hand auf der Lehne eines Holzstuhls.
»Carter!« Es schnürte ihr die Kehle zu. »Ich …«
Sie hatte so intensiv darüber nachgedacht, was sie sagen sollte, doch nun, da sie vor ihm stand, wusste sie, dass es keine Entschuldigung gab.
»Du wärst doch sofort zu Isabelle gegangen«, sagte sie schließlich, »ob ich das wollte oder nicht. Aber ich musste einfach mit Christopher reden. Ich konnte nicht zulassen, dass sie meinen Bruder kidnappen.«
»Also hast du statt meiner Sylvain eingeweiht.«
Carter umklammerte die Stuhllehne so fest, dass Allie seine weißen Fingerknöchel sehen konnte.
Er sah unheimlich verletzt und wütend aus. Unter der Last ihrer Schuld ließ sie die Schultern hängen. »Ich musste es ihm erzählen, wegen des Interviews.« Als Carter ihr einen skeptischen Blick zuwarf, fuhr sie zurückhaltend fort: »Er hat gefragt, ob ich was von Christopher gehört hätte, und das hatte ich ja. Ich durfte doch nicht lügen. Deshalb hab ich’s ihm gesagt. Ich hab ihm erzählt, dass ich Christopher treffen wollte. Und er wollte nicht, dass ich allein hingehe.«
»Und wieso hast du sonst keinem davon erzählt? Rachel zum Beispiel?« Er sprach leise und ruhig, doch sie spürte, wie er mit sich kämpfen musste, um seine Gefühle unter Kontrolle zu halten. »Vertraust du ihr etwa auch nicht?«
»Sie hat die Trainings nicht mitgemacht«, antwortete Allie dumpf. Ihr war, als hätte sie diese Auseinandersetzung bereits verloren. »Ich hätte es nicht ertragen, wenn ihr was passiert wäre.« Sie machte einen Schritt auf ihn zu. »Es hat mich wahnsinnig gemacht, dass ich es dir nicht gesagt habe, Carter. Du bist der Mensch, dem ich es am liebsten erzählt hätte. Aber …«
»Aber du hast
mir nicht getraut
.«
So schnell, dass ihr keine Zeit zu reagieren blieb, packte er den Stuhl mit einer Hand und schleuderte ihn durch den Raum. Als er krachend auf dem Fußboden landete, hallte es durch den ganzen Saal.
»Carter …«, schnappte sie nach Luft und starrte ihn an.
»Sag mir die Wahrheit, Allie.« Keuchend stand er da, die Hände neben seinem Körper zu Fäusten geballt. »Sieh mir in die Augen, und sag mir, dass du für Sylvain nichts empfindest außer Freundschaft. Sag mir, dass er dich in keiner Weise anzieht.«
Allie öffnete den Mund.
Sei nicht albern
, wollte sie sagen.
Du bist der Einzige.
Doch es kam kein Ton heraus. Sie hatte genug gelogen. Und ihre Gefühle für Sylvain waren so widersprüchlich, dass sie nicht mehr wusste, was sie überhaupt für ihn empfand.
Sie hätte es nicht für möglich gehalten, dass Carters Augen noch dunkler werden konnten.
Mit drei raschen Schritten überwand er den Raum zwischen ihnen, packte sie an den Armen und zog sie an sich. Er presste seinen Körper gegen ihren, bis sie sein Herz schlagen hörte. Sie sah nur noch seine dunklen Augen.
»Ich hätte alles für dich getan«, sagte er mit zusammengebissenen Zähnen.
Allie sah ihn erstaunt an. Das war nicht Carter. So hatte er sich noch nie verhalten. Sie hob die Hand und berührte mit den Fingerspitzen leicht seine Schläfe. Er wich zurück.
»Es tut mir leid, dass ich dir wehgetan habe«, flüsterte sie mit bebenden Lippen. »Ich hab nur … Ich hab gehofft, du würdest
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