Night School 03 - Denn Wahrheit musst du suchen

Zusammenschluss sehr mächtiger Leute – Abgeordnete, Richter, Anwälte, Investoren, Unternehmensvorstände, Medienunternehmer und so weiter und so fort.« Lucinda wedelte mit der Hand, und der Diamantring an ihrem Finger funkelte wie gefrorenes Feuer. »Ich könnte jetzt noch viel mehr aufzählen, aber für den ersten Eindruck dürfte das reichen. In anderen Ländern gibt es ähnliche Organisationen, aber Orion ist die älteste. In den vergangenen fünfzehn Jahren habe ich an der Spitze von Orion gestanden. Im Grunde genommen habe ich die Position von meinem Vater geerbt. Das war immer eher so eine Art Ehrenvorsitz.« Sie hielt inne und sah Allie scharf an. »Verstehst du, was ich mit ›Ehrenvorsitz‹ meine?«
    Stumm schüttelte Allie den Kopf.
    »Es heißt so viel wie ›nur dem Namen nach‹. Der Präsident der Organisation war eigentlich nur so eine Art Frühstücksdirektor, der zu Treffen einlädt, Gala-Diners veranstaltet und dafür sorgt, dass … was passiert. Bis ich kam – und alles umgekrempelt habe.« Sie lächelte spröde.
    »Und wie?«, fragte Allie.
    »Indem ich ein neues System eingeführt habe, das vorsieht, dass der Aufsichtsrat jetzt über alles, was wir tun, abstimmen kann. Außerdem habe ich mich dafür eingesetzt, dass in Cimmeria nicht nur Kinder mit einem ganz bestimmten gesellschaftlichen Hintergrund zugelassen werden, sondern auch andere. Wie du weißt, ist die Schule das Entree in die Organisation. Die Night School ist die wichtigste derartige Einrichtung, aber an anderen Top-Privatschulen gibt es ähnliche Gruppen. Bis ich kam, wurde man qua Herkunft Mitglied – wenn jemand aus deiner Familie schon da war, wurdest du auch zugelassen. Das habe ich geändert … so gut es ging. Nun wird ein bestimmter Prozentsatz Schüler – weniger, als ich gern hätte – aufgrund seiner Begabung und seiner geistigen Fähigkeiten zugelassen. Frisches Blut, wenn man so will.«
    Allie dachte an Carter, den Waisensohn einer Küchenhilfe und eines Mechanikers. Endlich verstand sie, wieso er in der Night School war.
    »Okay«, sagte sie. »Aber was genau … macht … Orion?«
    Lucinda dachte einen Augenblick nach. »Wir stellen sicher, dass die Dinge reibungslos funktionieren.«
    »Was für … Dinge?«
    »Die Regierung«, sagte Lucinda. »Die Banken. Große Konzerne. Medien. Rechtsprechung.«
    Wie bitte?
    »Ja, kümmert sich nicht die Regierung ums Regieren?«, fragte Allie.
    »Selbstverständlich«, sagte Lucinda milde. »Wir helfen ihnen bloß dabei.«
    »Inwiefern?«
    »Indem wir sicherstellen, dass die richtigen Leute gewählt werden. Mitglieder von Orion. Leute, die verstehen, was wir tun.« Lucinda legte den Kopf schief. »Kannst du das nachvollziehen?«
    »Nein.« In Allies Ohren klang das alles gar nicht gut. »Willst du damit sagen, dass, wenn die Leute wählen gehen, ihre Stimmen gar nicht zählen?«
    »Im Gegenteil, ihre Stimmen zählen sehr wohl«, versicherte Lucinda ihr. »Aber die Leute, für die sie stimmen, gehören zu Orion.«
    Allie war völlig perplex. »Alle?«, fragte sie kleinlaut.
    »Nein, nicht alle«, erwiderte Lucinda. »Nur … eben genug.«
    »Und die Richter?«, fragte Allie mit schwacher Stimme. »Die auch?«
    »Unbedingt«, sagte Lucinda. »Das Justizsystem spielt eine wichtige Rolle. Insbesondere der Oberste Gerichtshof. Den kontrollieren wir übrigens komplett. Das … geht einfach nicht anders.«
    Eine längere Pause entstand. Allie musste das erst einmal verdauen. Die ganz alltäglichen Geräusche um sie herum kamen ihr mit einem Mal völlig deplatziert vor – das Knistern des Wasserkochers in der Ecke, der langsam abkühlte; das Gelächter, das von draußen hereindrang. So als würde nicht alles um sie herum von einer Geheimorganisation kontrolliert.
    »Orion kontrolliert also … alles.«
    »Nicht restlos alles«, sagte Lucinda. »Aber doch das meiste in wirksamer Weise. So könnte man es wohl ausdrücken.«
    »Und wieso?«
    »Das ist eine lange Geschichte.« Lucinda goss sich noch etwas Tee nach. »Orion ist eine sehr alte Organisation, musst du wissen. Ihre Geschichte reicht über zwei Jahrhunderte zurück, als die Monarchien überall in Europa ihre Macht einbüßten und die Parlamente an Einfluss gewannen, deren Rolle aber noch nicht so gefestigt war. Nach den Revolutionen in Frankreich und Amerika befürchtete der Adel, dass es auch in England zu einem Umsturz kommen könnte. Und weil der König zu schwach war, um seine Regierung zu kontrollieren, geschweige