Night Sky 1 - Sklave des Blutes (German Edition)
Mom den Worten des Geistlichen, stand aufrecht wie allzeit in ihrem Leben. Zu ihrer Linken überragte sein Bruder sie um Kopflänge. Seit hundert Jahren hatte Jonas seine Verwandtschaft nicht gesehen. Er hätte nicht zur Beerdigung kommen dürfen, die hohen Kreise der Familie weiter meiden sollen. Stets hatte er ihr nur Unheil gebracht. Er schluckte die Wut über sich hinunter, den Sarkophag im Visier. Nie hatte er eine Chance wahrgenommen, seinem Dad zu sagen, dass es ihm leidtat, dass er ihn liebte. Was würde er dafür geben, dass er und nicht Diandro in dem Sarg läge?
Kurzzeitig schloss Jonas die Augen, versuchte, die Gefühle abzuschütteln, mit der seine ungewohnte Begabung ihn gerade jetzt auf grausamste Art folterte. Mit dem Tod seines Vaters war eine Fähigkeit auf ihn übergegangen, von der er nichts gewusst hatte. Vor der Abreise aus Russland hatte er mit Entsetzen festgestellt, dass fremde Emotionen ihn überfluteten. Inmitten der über 300 Trauergäste glich das einer Bestrafung. Die meisten waren Menschen, zwei Schattenwandler, die bei Tage harmlos anmuteten und oft von Begräbnissen angezogen ungebeten auftauchten, ein paar Werwölfe, Vampire und … drei Gestaltwandler – eine Frau mit ihren Kindern. Jonas brauchte sich nicht zu rühren, um die hochmagischen Wesen in seinemRücken zu identifizieren, sie schirmten ihre Identität nicht ab. Er empfing Melancholie und Verzweiflung. Die Gestaltwandlerin hatte Diandro gekannt, fühlte sich ihm vielleicht verbundener als sein eigener Sohn. Er schluckte schwer an der Erkenntnis. Warum standen die drei in ihrer wahren Gestalt auf dem Friedhof und bezeugten Anteilnahme? In seinem langen Leben war er erst einem dieser Art begegnet, bei der Schlacht auf dem Eriesee 1813 und hatte sich geschworen, dieser undurchdringlichen Spezies aus dem Weg zu gehen. Ihre Verwandlungskünste, ihre Macht im medialen Zweikampf, waren gefürchtet. Mit einem Gedanken konnten sie ein Gehirn manipulieren oder in ein Gefühlschaos schicken. Gestaltwandler waren selten, hielten sich für etwas Besseres und gaben sich nicht mit niederen Wesen ab.
Die Trauerrede endete mit einem leise ausklingenden Amen und seine in Schwarz gehüllte Mom sank auf die Knie. Undenkbar, dass Sitara, königlich im Blute, sich ins feuchte Gras niederließ, aber sie tat es. Ein Raunen floss durch die Gäste. Jonas wollte sich zu ihr beugen, ihr auf die Beine helfen, da hob sie den Schleier und ihre Handflächen berührten die Sonnenstrahlen. Mit ihrer glasklaren, durchdringenden Stimme begann Sitara, zu singen. Wenngleich jede Strophe an Diandro gerichtet, rührte sie Jonas’ Herz, durchdrang seine Seele, obwohl er kein Wort des alten indianischen Liedes verstand. All sein Wissen, seine Macht, brachte ihn nicht weiter. Keine der Sprachen, die er beherrschte, vermochte Sitaras Worte zu verstehen. Er lauschte Moms hellem Gesang, hörte die letzten boshaften Flüche, die er Dad entgegengeschleudert hatte, als Jonas fortging, fort musste, sie alle zurückließ. Sein Herz zersprang, Tränen rollten über sein erhitztes Gesicht.
Warum? Wie? Welches Geschöpf barg die Überlegenheit, um Diandro Baker, einen Fels in der Brandung und vom edlen Blute der Azteken, zu töten?
Sein brennender Blick traf auf Alexander. Der erste Augenkontakt seit hundert Jahren, den Jonas schnell unterband. Der Ausdruck seines Bruders blieb verstockt und distinguiert wie eh und je, durchtränkt von Hass wie eine Seuche.
Plötzlich durchflutete Jonas ein Glücksgefühl, erhellte seine düsteren Gedanken, ließ ihn vor Wohlbehagen aufseufzen. Er fuhr sich mit den Fingern durch das Haar und drehte sich zu der Gestaltwandlerin um, die ihm diese Empfindung schenkte, aber sah nur drei Tauben, die davonflatterten. Gleichzeitig verklang das traurige Lied.
Jonas half Sitara aufzustehen, hielt ihren Arm als Geste der Verbundenheit, spürte erneut das zerreißende Leid in ihrem Inneren, sah die wässrigen Augen und legte ihr den Schleier vor das Gesicht. Er wandte sich dem Sarg zu. Mit dem Dorn einer Rose stach er tief in seine Fingerkuppe, küsste Blut und Rosenkopf und ließ sie mit einem Versprechen dumpf auf den Deckel fallen.
„Ich werde deinen Tod rächen, Dad.“
Es gibt Menschen und Wesen – und mich.
Was es nicht gibt, ist schwarz und weiß. Alles, was uns umgibt, was wir sind, besteht aus Schattierungen von Grau. Gut und Böse sind nichts weiter als tief verwurzeltes Wunschdenken, eine Scheinwahrheit. Ich denke, ich bin
Weitere Kostenlose Bücher