NIGHT WORLD - Engel der Verdammnis
lächelte.
»Ja«, flüsterte Gillian. Mehr bekam sie nicht heraus.
»Hast du Angst?«
»Ja.«
Der Engel machte eine frustrierte Kreisbewegung mit der Hand. »Ich kann das ganze Geschwafel abspulen: Hab keine Angst, ich will dir nichts tun, all das - aber es ist eine solche Zeitverschwendung, meinst du nicht auch?« Er sah sie an. »Na komm schon, Kleines, du bist vor ein paar Stunden gestorben. Gestern. Im Vergleich dazu ist dies doch gar nicht so merkwürdig. Du wirst damit fertig.«
»Ja.« Gillian blinzelte. »Ja«, wiederholte sie mit größerer Überzeugung und nickte.
»Hol tief Luft, steh auf...«
»Ja.«
»... und sag etwas anderes...«
Gillian stand auf. Sie hockte sich auf die Bettkante. Er hatte recht, sie konnte damit fertig werden. Es war also kein Traum gewesen. Sie war wirklich gestorben, und es gab wirklich Engel, und jetzt war einer davon mit ihr im Zimmer und sah beinahe so aus, als hätte er einen festen Körper, nur dass seine Umrisse etwas verliefen. Und er war gekommen, um...
»Warum bist du hergekommen?«, fragte sie,
Er stieß, einen Laut aus, den Gillian, wäre er kein Engel gewesen, als ein Schnauben bezeichnet hätte. »Du denkst doch nicht etwa, ich wäre je weg gewesen, oder?«, erwiderte er tadelnd. »Ich meine, denk darüber nach. Wie hast du es geschafft, dich von Erfrierungen zu erholen, ohne auch nur ins Krankenhaus gebracht werden zu müssen? Du hattest eine schwere Unterkühlung. Die schlimmste überhaupt. Dir drohten Lungenödeme, Kammerflimmern, der Verlust einiger Körperteile...« Er wackelte mit den Fingern und den Füßen. Das war der Moment, in dem Gillian klar wurde, dass er mehrere Zentimeter über dem Boden stand. »Du warst in einer ganz schlechten Verfassung, Kind. Aber du hast nicht einmal Erfrierungen davongetragen.«
Gillian betrachtete ihre eigenen zehn rosigen Finger. Sie kribbelten und waren überempfindlich, aber sie hatte nicht eine einzige Frostbeule. »Du hast mich gerettet.«
Er grinste schwach und wirkte leicht verlegen. »Nun, das ist mein Job.«
»Menschen zu helfen?«
»Dir zu helfen.«
Eine kaum eingestandene Hoffnung stieg in Gillian auf. Er hatte sie niemals wirklich verlassen; es war sein Job, ihr zu helfen. Das klang wie... konnte er...
Oh Gott, nein, es war zu abgedroschen. Und obendrein anmaßend.
Wieder blickte er verlegen drein. »Ja. Ich weiß auch nicht, wie ich es ausdrücken soll. Aber es ist wahr.
Wusstest du, dass die meisten Menschen denken, sie hätten einen, obwohl sie gar keinen haben? Jemand hat mal eine Umfrage gemacht, und siehe da, >die meisten Menschen leben in der inneren Gewissheit, dass es einen bestimmten, individuellen Geist gibt, der über sie wacht.< Die New-Age-Anhänger nennen uns Geistführer. Die Hawaüaner nennen uns aumakua...«
»Du bist ein Schutzengel«, flüsterte Gillian.
»Ja. Dein Schutzengel. Und ich bin hier, um dir zu helfen, dir deinen Herzenswunsch zu erfüllen.«
»Ich...« Wieder war Gillians Kehle wie zugeschnürt.
Es war zu groß, um daran zu glauben.
Sie war das nicht wert. Sie hätte ein besserer Mensch sein sollen, sodass sie ein wenig von dem Glück, das sich plötzlich vor ihr ausbreitete, verdient hätte.
Aber dann spürte sie den kalten Griff der Realität, die sie in ihr Reich zurückzog. Sie war kein besserer Mensch, und obwohl sie davon überzeugt war, dass Erleuchtung und alles andere, was ein Engel sonst noch für ihren Herzenswunsch halten mochte, etwas Großartiges war, nun... in ihrem Fall...
Sie schluckte. »Hör mal«, sagte sie grimmig entschlossen. »Die Dinge, bei denen ich Hilfe bräuchte - hm, es ist nicht direkt die Art von Dingen, über die Engel Bescheid wissen werden.«
»He.« Er grinste. Dann beugte er sich auf eine Weise vor, bei der ein gewöhnlicher Mensch das Gleichgewicht verloren hätte, und schwenkte ein imaginäres Etwas über ihrem Kopf. »Du wirst auf den Ball gehen, Aschenputtel.«
Ein Zauberstab. Gillian sah ihn an. »Bist du jetzt auch noch meine gute Fee?«
»Ja. Aber zügle deinen Sarkasmus, Kleines.« Er brachte sich in eine schwebende Position, schlang die Arme um die Knie und sah ihr direkt in die Augen. »Wie wär's, wenn ich sage, dass ich weiß, worin dein Herzenswunsch besteht: David Blackburn soll sich bis über beide Ohren in dich verlieben, und alle in der Schule sollen dich für total heiß halten?«
Das Blut schoss Gillian in die Wangen. Ihr Herz hämmerte mit den langsamen, harten Schlägen der Verlegenheit - und der
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