NIGHT WORLD - Engel der Verdammnis
Information zu bekommen, war Angel selbst.
Niemand sonst konnte es ihr sagen. »Bist du das?« Gillian kratzte Schnee von einem Grabstein aus Granit und las die Worte. »›Thomas Ewing, 1775, der für die Freiheit blutete und starb.‹ Warst du Thomas Ewing?«
Die vereisten Zweige des Baumes über ihr klirrten im aufkommenden Wind gegeneinander. Es war ein Geräusch wie von einem kristallenen Kronleuchter.
»Nein, er klingt zu mutig. Und du bist offensichtlich nur ein Feigling.« Sie kratzte einige der anderen Steine frei. »He, vielleicht warst du William Case. »Dahingerafft in der Blüte seiner Jugend durch einen Sturz von der Postkutschen Das klingt schon eher nach dir. Warst du William Case?«
Bist du endlich fertig mit dem Gesinge?
Gillian erstarrte.
Denn ich habe auch ein Lied für dich. Die Stimme in ihrem Kopf begann, heiser zu singen. Unheimlich. Das Phantom der Oper ist hier, in deinem Geist...
»Oh, na komm schon, Angel. Das kannst du doch besser. Und warum zeigst du dich mir nicht? Hast du zu große Angst, um mir von Angesicht zu Angesicht gegenüberzutreten?«
Ein Licht schimmerte über dem Schnee - ein wunderschönes, bleichgoldenes Licht, das sich kräuselte wie Seide. Es wuchs, es nahm Gestalt an.
Und dann stand Angel dort. Er schwebte nicht. Seine Füße schienen den Schnee tatsächlich zu berühren.
Er sah - umwerfend aus. Betörend und schön im Zwielicht. Aber seine Schönheit machte ihr jetzt nur noch Angst. Gillian wusste, was darunter lag.
»Hallo du.« Sie flüsterte beinahe. »Ich schätze, du weißt, weshalb ich hier bin und worüber ich mit dir reden will.«
»Ich weiß es nicht, und es interessiert mich auch nicht. Solltest du überhaupt allein hier draußen sein? Weiß irgendjemand, wo du bist?«
Gillian trat vor ihn hin. Sie sah ihm direkt in die Augen, die so violett und düster waren wie der Himmel.
»Ich weiß, was du bist«, erklärte sie, während sie diesen Blick festhielt und jedem einzelnen Wort Gewicht verlieh. »Kein Engel. Kein Teufel. Du bist nur eine Person. Genau wie ich.«
»Falsch.«
»Du hast die gleichen Gefühle wie jede andere Person auch. Und du kannst nicht glücklich dort sein, wo du jetzt bist. Niemand könnte das. Du kannst nicht dort festsitzen wollen. Wenn ich tot wäre, würde ich es hassen.«
Die letzten Worte kamen mit einem solchen Nachdruck heraus, der selbst Gillian überraschte. Angel wandte den Blick ab.
Ein Vorteil. Gillian zögerte nicht. »Ich würde es hassen«, wiederholte sie. »Einfach nur herumzuhängen, nicht weiterzukönnen, andere Menschen dabei zu beobachten, wie sie ihr Leben leben. Nichts zu sein, nichts zu tun - es sei denn, einigen Menschen auf der Erde Schwierigkeiten zu bereiten. Welche Art von Leben ist da-« Sie brach ab, denn sie hatte ihren Fehler erkannt.
Er grinste boshaft und erholte sich von ihrem Angriff. »Kein Leben!«
»Also schön, dann eben: Welche Art von Existenz ist das«, entgegnete Gillian kalt. »Du weißt, was ich meine. Es stinkt zum Himmel, Angel. Es ist widerlich. Es ist abstoßend.«
Angels Gesicht zuckte krampfhaft. Er fuhr herum und drehte ihr den Rücken zu. Und zum ersten Mal, seit Gillian ihm begegnet war, sah sie Erregung in ihm. Er ging tatsächlich auf und ab, und er bewegte sich dabei wie ein Tier im Käfig. Und sein Haar - es schien wie von unsichtbarer Hand zerzaust.
Gillian nutzte ihren Vorteil weiter aus. »Es ist ungefähr genauso gut, wie dort unten zu liegen.« Sie trat gegen die gefrorenen Gräser auf einem Grab.
Er fuhr wieder zu ihr herum, und seine Augen waren unnatürlich hell. »Aber ich bin dort unten, Gillian.«
Einen Moment lang prickelte ihre Haut so heftig, dass sie nicht sprechen konnte. Sie musste sich dazu zwingen, mit ruhiger Stimme zu fragen: »Unter diesem Stein?«
»Nein. Aber ich werde dir zeigen, unter welchem ich liege. Würde dir das gefallen?« Er machte eine großartige Geste und lud sie ein, die Treppe mit ihm hinabzusteigen. Gillian zögerte, dann ging sie los, wohlwissend, dass er hinter ihr war.
Ihr Herz hämmerte wie wild. Dies war beinahe ein körperlicher Wettstreit zwischen ihnen - ein Wettstreit, um herauszufinden, wer den anderen mehr in Aufruhr bringen konnte.
Aber sie musste es tun. Sie musste eine Verbindung zu ihm herstellen. Musste sich seinen Ärger, seine Frustration und seine Verzweiflung zunutze machen und ihm irgendwie Antworten abnötigen.
Und es mar ein Wettstreit der Willenskraft. Wer konnte lauter schreien, wer konnte
Weitere Kostenlose Bücher