NIGHT WORLD - Engel der Verdammnis
unbarmherziger sein. Wer konnte durchhalten.
Der Preis war Angels Seele.
Am Fuß der Treppe wäre sie fast gestolpert. Es war zu dunkel, um zu sehen, wo sie hintrat. Beinahe geistesabwesend bemerkte sie, dass es sehr kalt geworden war.
Etwas wie ein eisiger Wind strich an ihr vorbei - und vor ihr war Licht. Angel ging nun dort, und er hinterließ keine Fußabdrücke im Schnee. Gillian taumelte hinter ihm her.
Sie gingen auf den neueren Teil des Friedhofes zu. Daran vorbei. In den ganz neuen Teil.
»Hier«, sagte Angel. Dann drehte er sich um. Seine Augen glitzerten. Er stand hinter einem Grabstein, und sein eigenes Licht beleuchtete ihn.
Ein Frösteln durchlief Gillian.
Dies war es, worum sie gebeten hatte.
Genau das. Aber die feinen Härchen in ihrem Nacken stellten sich dennoch auf.
Er lag hier. Direkt hier. Unter der Erde. Der Körper derjenigen Person, die sie geliebt und der sie vertraut hatte... deren Stimme das Letzte gewesen war, was sie des Nachts und das Erste, was sie jeden Morgen gehört hatte.
Er lag hier in einer Kiste in der Erde, es sei denn, dass die Kiste bereits verfault war. Und er war kein lächelnder, goldhaariger gutaussehender Junge. Und sie würde seinen Namen von einem Stein erfahren.
»Ich bin hier, Gillian«, sagte Angel auf schaurige Weise; er beugte sich über den granitenen Grabstein und stützte die Ellbogen darauf. »Komm her und sag Hallo.« Er lächelte, aber seine Augen sahen so aus, als hasste er sie. Wild und verwegen und voller Bitterkeit. Zu allem fähig.
Doch irgendwie verschwand das Übelkeit erregende Grauen, das Gillian erfasst hatte.
Ihre Augen brannten. Die Tränen gefroren auf ihren Wangen. Sie strich sie geistesabwesend fort und kniete neben dem Grab nieder, nicht darauf. Sie sah Angel nicht an.
Dann legte sie für einen Moment die Hände aneinander und senkte den Kopf. Es war ein wortloses Gebet an welche Macht auch immer, die dort draußen sein mochte.
Dann zog sie ihren Handschuh aus und kratzte mit der bloßen Hand den Schnee vom Grabstein.
Es war ein schlichter Grabstein. Die Aufschrift lautete: »In liebendem Gedenken an unseren Sohn. Gary Fargan.«
»Gary Fargan«, sagte Gillian leise. Dann blickte sie zu der Gestalt auf, die über dem Stein gebeugt stand. »Gary.«
Er stieß ein höhnisches Lachen aus, aber es klang gezwungen. »Schön, dich kennenzulernen. Ich kam aus Sterbeck; wir waren praktisch Nachbarn.«
Gillian blickte wieder nach unten. Das Geburtsdatum lag achtzehn Jahre zurück. Und das Datum des Todes war das vergangene Jahr.
»Du bist letztes Jahr gestorben. Und du warst erst siebzehn.«
»Ich hatte einen kleinen Autounfall«, erklärte er. »Ich war extrem betrunken.« Wieder lachte er dieses wilde Lachen.
Gillian hockte sich auf die Fersen. »Oh, wirklich. Nun, das war genial«, flüsterte sie.
»Was ist das Leben?« Er bleckte die Zähne. »›Verlösche, verlösche, kurze Kerze‹ - oder etwas in der Art.«
Gillian weigerte sich, sich ablenken zu lassen. »Ist es das, was du getan hast?«, fragte sie leise. »Hast du dich umgebracht? Ist das auf irgendeine Weise eine unerledigte Sache?«
»Das würdest du gern wissen, wie?«, fragte er. Okay, Rückzug. Er war noch nicht so weit. Vielleicht sollte sie es mit weiblicher List versuchen. »Ich dachte nur, du würdest mir vertrauen - Angel. Ich dachte, wir wären angeblich Seelengefährten...«
»Aber jetzt weißt du, dass wir es nicht sind, nicht wahr? Weil du deine wahre Liebe gefunden hast - diesen Trottel.« Gary ließ sein Lächeln noch strahlender erscheinen. »Aber selbst wenn wir keine Seelengefährten sind, haben wir eine Verbindung, weißt du. Wir sind Vetter und Cousine. Es ist nur eine entfernte Verwandtschaft, aber das Band ist da.«
Gillian ließ die Hände sinken und blickte zu ihm auf. In ihrem Gehirn gingen Lichter an, aber sie war sich noch nicht ganz sicher, was sie beleuchteten.
Das Seltsamste war, dass diese Offenbarung sie nicht wirklich überraschte.
»Hast du dich niemals gefragt, warum wir beide die gleiche Augenfarbe haben?« Er schaute auf sie hinab. Obwohl alles um ihn herum dunkel war, waren seine Augen wie violette Flammen. »Ich meine, diese Augenfarbe ist nicht direkt alltäglich. Deine Urgroßmutter Elspeth hat solche Augen. Genau wie ihr Zwillingsbruder, Ammet.«
Zwillinge.
Natürlich. Die verlorenen Harman-Babys, hatte Melusine gesagt. Elspeth und Ammet. »Und du bist...?«
Er feixte. »Ich bin Ammets Urenkel.«
Jetzt konnte Gillian
Weitere Kostenlose Bücher