NIGHT WORLD - Engel der Verdammnis
Kann mit niemandem reden, kann niemanden berühren, kann aber eindeutig alles sehen. Ich habe die Suche nach ihr beobachtet. Sie sind etwa dreißig Zentimeter an ihrer Leiche vorbeimarschiert.«
Gillian schluckte und wandte den Blick ab. Etwas war in ihr zerbrochen, eine Vorstellung von Gerechtigkeit, die nie wieder heilen würde. Aber dies war nicht der richtige Zeitpunkt, um weiter darüber nachzudenken.
Es war im Grunde nicht seine Schuld gewesen... aber was bedeutete das schon? Man spielte mit dem Blatt, das man in die Hände bekam. Und Gary hatte mit seinem Blatt sehr schlecht gespielt. Er hatte von Anfang an alles gehabt - gutes Aussehen, einen scharfen Verstand und genug Zauberkraft, um einen Löwen zu bändigen - und er hatte es vermasselt.
Es spielte keine Rolle. Sie mussten dort weitermachen, wo er aufgehört hatte.
Sie blickte zu ihm auf. »Gary, du musst mir sagen, wo sie ist.«
Schweigen.
»Gary, verstehst du denn nicht? Dies ist deine unerledigte Aufgabe. Ihre Familie weiß es nicht...« Gillian brach ab und schluckte. Als sie fortfuhr, zitterte ihre Stimme. »Ihre Familie weiß nicht, ob sie lebt oder tot ist. Meinst du nicht, sie sollten das erfahren?«
Eine lange Pause. Dann sagte er verstockt: »Ich will nirgendwo hingehen.«
Wie ein verängstigtes Kind, dachte Gillian. Aber sie wandte den Blick nicht von ihm ab. »Gary, sie verdienen es, Bescheid zu wissen«, erwiderte sie leise. »Sobald sie Frieden gefunden haben...«
Er schrie beinahe: »Was ist, wenn es keinen Frieden für mich gibt?«
Nicht verängstigt, zu Panik erstarrt.
»Was ist, wenn es keinen Ort für mich gibt, an den ich gehen kann? Was ist, wenn sie mich nicht nehmen ?«
Gillian schüttelte den Kopf. Wieder flossen ihre Augen vor Tränen über. Und sie hatte keine Antworten für ihn. »Ich weiß es nicht. Aber es ändert nichts an dem, was wir tun müssen. Ich werde jedoch bei dir bleiben, wenn du willst. Ich bin deine Cousine, Gary.« Dann fügte sie sehr leise hinzu: »Führ mich zu ihr.«
Sekundenlang stand er da - die längsten Sekunden in Gillians Leben. Er betrachtete etwas am Nachthimmel, das sie nicht sehen konnte, und seine Augen waren vollkommen schwarz.
Dann sah er sie an und nickte langsam.
»Hier?« David bückte sich und berührte den Schnee. Dann blickte er zu Gillian auf. Seine Augen waren so jung - ein wenig verängstigt. Aber sein Kinn war fest.
»Ja. Genau dort.«
»Eine ziemlich seltsame Stelle, um so etwas zu tun.«
»Ich weiß. Aber wir haben keine andere Wahl.«
David machte sich mit der Schaufel ans Werk. Gillian türmte den Schnee zu einer Mauer auf. Sie versuchte, nur daran zu denken, dass sie das als Kind gemacht hatte und wie leicht und nteressant es damals gewesen war. Sie machte weiter, bis David sagte: »Ich habe sie gefunden.«
Gillian trat zurück und klopfte ihre Ärmel und Fäustlinge ab.
Es war ein klarer Tag, und die Nachmittagssonne stand leuchtend an einem kalten, blauen Himmel. Die kleine Lichtung war friedlich, beinahe wie eine Zuflucht. Unberührt, bis auf einen Streifen im Schnee, wo eine Erdmaus einen Tunnel gegraben hatte.
Gillian holte einige Male tief Luft, ballte die Fäuste und drehte sich dann um, um hinzuschauen.
David hatte nicht viel freigelegt. Ein Stück von einem verkohlten, roten Wollmuff. Er kniete neben dem schmalen Graben, den er ausgehoben hatte.
Gillian weinte wieder, aber sie setzte sich darüber hinweg. Sie sagte: »Es war am letzten Tag vor den Weihnachtsferien, also haben wir in der Schule blau gemacht. Wir haben im Wald Verstecken gespielt. Dann haben wir beschlossen, eine Schneeburg zu bauen...«
»Und dabei haben wir die Leiche entdeckt.« David stand auf und legte ihr sanft eine Hand auf den Ellbogen. »Es ist eine komische Geschichte, aber sie ist besser als die Wahrheit.«
»Und was können sie uns schon unterstellen? Wir haben Paula Belitzer nicht einmal gekannt. Sie werden wissen, dass sie ermordet wurde, weil jemand sie vergraben hat. Aber sie werden nicht wissen, wie sie gestorben ist. Sie werden denken, jemand hätte versucht, die Leiche zu verbrennen, um sie sich vom Hals zu schaffen.«
David legte ihr einen Arm um die Taille, und sie lehnte sich an ihn. So standen sie einige Sekunden lang da und gaben einander Halt.
Es war seltsam, wie natürlich das jetzt war. David hatte sich bereitgefunden, ihr bei all dem zu helfen; er hatte nicht einen Moment lang gezögert... und das hatte Gillian nicht überrascht. Sie hatte es erwartet.
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