Night World - Retter der Nacht
»Und du gehst aus?«
»Ich muss.« Er verzog das Gesicht. »Ich habe nämlich total vergessen, dass mein Cousin Ash diese Woche zu Besuch kommen will. Ich muss zu meinen Eltern, um ihn abzufangen.«
»Ich wusste gar nicht, dass du einen Cousin hast.«
»Ich habe nicht nur einen, sondern jede Menge.« Er seufzte schwer. »Sie leben im Osten in einer, wie wir es nennen, sicheren Stadt. Das ist eine Stadt, die völlig von Wesen der Nachtwelt kontrolliert wird. Die meisten meiner Verwandten sind ganz in Ordnung. Bei Ash ist das was anderes.«
»Was stimmt denn nicht mit ihm?«
»Er ist verrückt. Außerdem kaltblütig, rücksichtslos …«
»Genauso beschreibt Phil dich.«
»Aber bei Ash ist das alles echt. Er ist unglaublich egoistisch und die Ehre der Familie geht ihm über alles. Ich habe ein Gerücht gehört, dass es Ärger mit seiner Großtante und seinen drei Schwestern gegeben haben soll. Er konnte die Sache gerade noch wieder hinbiegen. Einen weiteren Fleck auf unserer Familienehre würde er nicht dulden.«
»Und dieser Fleck wäre ich.« Poppy war bereit, alle
Verwandten von James zu lieben, aber sie musste zugeben, dass Ash ihr gefährlich werden konnte.
»Im Moment soll noch niemand von dir wissen«, fuhr James fort. »Und Ash schon mal gar nicht. Ich werde meinen Eltern sagen, dass er nicht herkommen soll, das ist alles.«
Und was sollen wir danach machen?, dachte Poppy. Sie konnte sich doch nicht für immer verstecken. Sie gehörte jetzt zur Nachtwelt. Aber diese Welt würde sie nicht akzeptieren.
Es musste eine Lösung geben, und sie konnte nur hoffen, dass James und sie sie finden würden.
»Bleib nicht zu lange weg«, bat sie. Er küsste sie auf die Stirn. Das war ein schönes Gefühl. So, als ob es zur Gewohnheit werden könnte.
Als er weg war, duschte sie und zog frische Klamotten an. Der gute alte Phil. Er hatte doch tatsächlich ihre Lieblingsjeans eingepackt. Dann trödelte sie ein bisschen in der Wohnung herum, denn sie wollte nicht einfach nur dasitzen und nachdenken. Niemand sollte am Tag nach seiner eigenen Beerdigung zu sehr ins Grübeln kommen.
Das Telefon lag auf einem kleinen Tisch neben der Couch und schien sie auszulachen. Sie musste den Drang, den Hörer zu nehmen, mit aller Macht unterdrücken.
Doch wen konnte sie schon anrufen? Niemanden.
Nicht einmal Phil, denn jemand könnte das Gespräch mithören. Oder, schlimmer noch, ihre Mutter könnte selbst an den Apparat gehen.
Nein, nicht an Mom denken, du Idiotin, ermahnte sie sich. Aber es war zu spät. Plötzlich wurde sie von der verzweifelten Sehnsucht überwältigt, die Stimme ihrer Mutter zu hören. Ein einfaches Hallo von ihr würde schon genügen. Poppy wusste, dass sie selbst nichts sagen durfte. Sie wollte sich nur vergewissern, dass ihre Mutter immer noch da war.
Impulsiv wählte sie die vertraute Nummer. Sie zählte das Klingeln mit. Einmal, zweimal, dreimal …
»Hallo?«
Es war die Stimme ihrer Mutter. Dann war es schon vorbei und es war nicht genug gewesen. Poppy rang nach Luft. Tränen liefen ihr über das Gesicht. Sie spielte nervös mit ihren Fingern und lauschte auf das leise Rauschen am anderen Ende wie eine Gefangene, die auf ihren Urteilsspruch wartet.
»Hallo? Wer ist da?« Ihre Mutter klang müde und nicht einmal wütend. Anrufe von Witzbolden waren nichts im Vergleich dazu, dass man gerade seine Tochter beerdigt hat.
Dann klickte es in der Leitung. Sie hatte aufgelegt.
Poppy drückte den Hörer an die Brust, weinte heftig und wiegte sich hin und her. Dann endlich legte sie ihn wieder hin.
Das würde sie bestimmt nicht noch einmal machen. Es war schlimmer, als ihre Mutter gar nicht zu hören. Und es half ihr auch nicht, mit der Realität fertig zu werden. Sie hatte das Gefühl, in einem unwirklichen Zwischenreich zu schweben, wenn sie sich vorstellte, dass ihre Mutter, ja ihre ganze Familie zu Hause war und sie selbst nicht.
Das Leben ging in diesem Haus weiter, und sie, Poppy, gehörte nicht mehr dazu.
Warum machst du es dir noch schwerer, als es ist?, dachte sie. Lenk dich ein bisschen ab.
Poppy sah sich gerade die Papiere auf James’ Schreibtisch an, da öffnete sich die Wohnungstür.
Weil sie das metallische Klirren eines Schlüssels hörte, dachte sie, es sei James. Aber noch bevor sie sich umgedreht hatte, wusste sie, dass er es nicht war. Es war nicht James’ Geist, den sie spürte.
Sie wandte sich um und erblickte einen jungen Mann mit aschblonden Haaren.
Er sah sehr gut aus,
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