Nightschool. Du darfst keinem trauen
durch deren Fenster Tageslicht einfiel.
Die Gummisohlen dämpften Allies Schritte fast vollständig, während sie durch offene Türen in leere Klassenzimmer spähte, wo die Pulte in geduldigen, gespensterhaften Reihen warteten.
Sie hätte nicht mit Sicherheit sagen können, wann genau sie die Stimmen zuerst hörte – auf halber Strecke des Flurs vielleicht. Ein leises Gemurmel, das ihr erst auffiel, als es für einen Augenblick anschwoll.
Sie blieb stehen.
Jemand rief, dann ein Knall, gefolgt von einem Gewirr besorgter Stimmen, die offenbar jemanden beschwichtigen sollten.
Allie wollte gerade den Rückzug antreten, als eine Tür am Ende des Flurs geöffnet wurde und eine Gestalt aus dem Dunkel trat.
Instinktiv huschte Allie in die nächste Türöffnung und versteckte sich im dunklen Klassenzimmer. Sie lauschte. Erst vernahm sie nur ihren eigenen Atem, doch dann hörte sie gedämpfte Schritte näher kommen. Sie zählte ihre Atemzüge.
… zehn, elf, zwölf …
Die Schritte blieben stehen.
Sie hielt den Atem an.
»Allie?«, zischte Carter barsch. »Spinnst du?«
Er streckte die Hand durch die Tür, packte Allie am Arm und zerrte sie ruppig zum Treppenhaus. Sie war zu überrascht, um zu protestieren, und stolperte einfach neben ihm her. Auf dem Treppenabsatz im ersten Stock knöpfte er sie sich vor.
»Was hast du oben im zweiten Stock zu suchen?« Seine Finger gruben sich in ihren Oberarm.
»Ich wollte mich mal umgucken«, erwiderte sie und riss sich los. Sie bemühte sich, ruhig zu wirken, doch sie wusste, dass es wie eine Rechtfertigung klang.
»Und wo wolltest du dich umgucken? In den Klassenzimmern?«
Gespielt lässig sagte sie: »Ja. Genau. Das ist doch nicht verboten, oder?«
»Hast du eigentlich mal die Infos durchgelesen, die du bei deiner Ankunft bekommen hast? Glaubst du, die Regeln gelten für dich nicht?« Seine Stimme triefte vor Sarkasmus, und Allie spürte, wie die Wut in ihr aufstieg.
Sind auf diesem Scheißinternat eigentlich alle bescheuert?
»Die sind mir zu langweilig«, blaffte sie zurück. »Hörst du jetzt vielleicht mal auf, dich wie so ’n Gestörter aufzuführen, und lässt mich los?«
»Der zweite Stock ist nur für fortgeschrittene Schüler und die Night School«, sagte Carter, als würde er mit einem Kind sprechen. »Wenn du hier erwischt wirst, kann das ernste Folgen für dich haben. Du darfst da niemals hochgehen.«
Sie wand sich aus seinem Griff. »Verdammt«, sagte sie und massierte sich die Schulter. »Findest du das nicht ein bisschen übertrieben? Als hätte ich wen ermordet!«
Sein Gesichtsausdruck blieb unverändert: »Ehrlich gesagt, Alyson Sheridan, langsam glaube ich, du bringst dich gern in Schwierigkeiten.«
Sie drehte ihm den Rücken zu und stampfte die Treppe hinunter. »Das sagt ja der Richtige, was, West?«, zischte sie ihm über die Schulter zu.
Er gab keine Antwort.
Am Abend stand Allie unruhig vor dem Speisesaal und sah zu, wie die Schüler hereinströmten. Katie kam vorbei, ätherisch leuchtend, im Schlepptau den üblichen Schwarm Schülerinnen. Sie flüsterte ihrem Gefolge etwas zu, und alle kicherten. Außer Jules, die keine Miene verzog.
Allie konnte sich nicht beherrschen; sie verdrehte die Augen und streckte ihnen die Zunge raus, worauf die anderen nur noch lauter lachten.
»So eine dämliche Kuh«, hörte sie Katie sagen, und sie wurde rot.
Kurz darauf tauchten Jo und Gabe auf, wie leuchtende Fixsterne in einer Konstellation aus Freunden. Jo lachte über irgendeinen Scherz. Allie wartete darauf, dass die anderen sie bemerkten, und redete sich ein, es sei ihr egal, ob man sie sah oder nicht. Doch da hatte Jo sie schon entdeckt. Mit breitem Lächeln kam sie auf Allie zugehüpft, griff nach ihrer Hand und zog sie in ihre Gruppe.
»Da bist du ja. Komm mit, ich will dir alle vorstellen.«
Allie setzte sich links von Jo an den Tisch, während Gabe zu ihrer Rechten Platz nahm. In dem lärmenden Durcheinander vor dem Abendessen erhob Jo ihre Stimme, damit jeder am Tisch sie hörte.
»Alle mal herhören, das ist Allie. Allie, das sind alle.«
»Also ein bisschen mehr ins Detail könntest du schon gehen, Jo.« Der Zwischenrufer war in Gabes Alter und saß Allie gegenüber. Sein glänzendes, hellbraunes Haar war gerade lang genug, dass es über sein rechtes Auge reichte. Ein Hingucker. Er lächelte kokett. »Ich bin nicht alle. Ich bin Lucas.«
Die anderen johlten laut, doch sein Lächeln war so ansteckend, dass Allie nicht anders konnte
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