Nightshifted
sie an mir
gezehrt haben.« Ihre Zunge fuhr spielerisch über ihre Lippen, während sie
nachdachte. »Eigentlich wollte ich sie immer selbst umbringen«, sagte sie
schlieÃlich, was ich ihr sofort glaubte.
»Warum hast du es nicht getan?«
»Sie haben mich ausgehungert.« Anna blickte an sich
herab und dann auf das Foto in ihrer Hand. »Seit sie mich gefangen genommen
haben, hat sich vieles verändert. Seit ich das letzte Mal den Himmel gesehen
habe. Ich wusste nie, an welchem Ort wir uns befinden. Immer wieder wurden wir
irgendwo anders hingeschafft, von einem Loch ins nächste. Und fütterten mit
unserem Schmerz die Tyeni. Selbst wenn mir die Flucht gelungen wäre â
vielleicht sogar, wenn er es geschafft hätte, mich zu befreien â, hätten sie
mich immer weitergejagt. Ich bin nicht einfach nur ein Vampir. Ich bin â¦Â« Sie
sah mich an, als hätte sie bereits zu viel gesagt. Dann schüttelte sie den
Kopf. »Das würdest du nicht verstehen. Ich bin nicht dazu bestimmt, gerade mal
neun zu sein, im Körper eines Kindes zu stecken.« Die leisen ReiÃgeräusche
setzten wieder ein.
Ich glaubte, in dieser blinden Betriebsamkeit eine
krampfhafte Ablenkung zu erkennen, den Versuch, sich vor Teilen ihrer
Vergangenheit zu verstecken. »Dich trifft keine Schuld, Anna.« Ich streckte die
Hand aus und legte sie sanft auf ihr Bein. Sofort schreckte sie auf wie eine
ängstliche Katze, woraufhin ich den Arm schnell wieder zurückzog.
»Du bist ein seltsamer Mensch. Zugleich mutig und
dumm.« Neugierig musterte sie mich und zog die Nase kraus.
»Ãh ⦠vielen ⦠Dank.«
Was auch immer sie mit ihren Händen tat, hörte wieder
auf, und sie starrte stattdessen auf das Foto und strich mit dem Zeigefinger
sanft darüber, bevor sie sich etwas von der Handfläche schnippte. Dann wandte
sie sich an mich: »Die Dämmerung naht. Ich muss schlafen. Aber wenn wieder
Nacht ist ⦠dann bring mich an den Ort, wo er gewohnt hat. Ich will ihn sehen.«
Ich nickte. Eigentlich hätte ich mit ihr verhandeln
müssen, um mir ihre Hilfe vor dem Tribunal zu sichern â hätte den Deal perfekt
machen müssen, wie man so schön sagt. Aber ich hatte gerade herausgefunden,
dass sie kontinuierlich missbraucht worden war, seit sie tatsächlich neun Jahre
alt gewesen war, was weit, weit zurücklag. Sie jetzt weiter zu bedrängen lieÃ
sich nicht mit meinem Gewissen vereinbaren. »Dann hole ich dir wohl am besten
etwas, worin du schlafen kannst.«
Â
Ich überlieà ihr ein
paar alte Krankenhausklamotten von mir, die ich schon lange zu Schlafanzügen
umfunktioniert hatte, und dazu meine Ersatzbettdecke. Währenddessen wanderte
sie wie ein dreister Einbrecher durch meine Wohnung, inspizierte die Schränke
und machte sogar die Backofenklappe auf.
»Wie lichtundurchlässig muss es denn sein?«, fragte
ich sie schlieÃlich.
»Sehr«, erwiderte sie stirnrunzelnd.
»Wo bist du denn bisher untergekommen?«
Sie kniff die Augen zusammen, antwortete aber nicht.
Wenn es sehr dunkel sein musste, und bei dem Geruch, den ich jedes Mal
wahrnahm, wenn sie mir zu nahe kam ⦠ich riet einfach mal, dass es unterirdisch
sein musste. Womöglich in der Kanalisation. »Hey â¦Â«
»Ja?«, fragte sie amüsiert.
Ihr zu erzählen, dass ich sie im Traum gesehen hatte,
schien irgendwie keine so gute Idee. Am Morgen würde bestimmt alles besser
sein, wobei ich mit Morgen nach achtzehn Uhr meinte.
»Ach, egal.« Ich öffnete die Tür zum Kleiderschrank
im Schlafzimmer. »Da hintendrin müsste es eigentlich sicher sein. Ich kann die
Türen mit Klebeband abdichten, sobald du drin bist.«
Bevor sie es sich im Schrank gemütlich machte, schob
sie erst mal alle meine Schuhe raus. Ich wartete geduldig, bis sie fertig war,
schloss die Tür und versiegelte die Ränder dann mit Klebeband. AnschlieÃend
dunkelte ich die Jalousien noch mit einem Extralaken ab und lieà mich dann
erschöpft auf die Matratze fallen.
Minnie kroch unter dem Bett hervor. »Miau«, sagte sie
schlicht, legte sich hin und schielte mich an. »Miiiiiaauuuuu.« Ihre
Missbilligung war offensichtlich. Aus dem Wohnzimmer mischte sich GroÃvater
noch mit ein paar deutschen Zwischenrufen ein. Ich ging los, um ihn zu holen.
»Ich weië, versicherte ich ihm, während ich den
Player nahm
Weitere Kostenlose Bücher