Niki de Saint Phalle - Die Lebensgeschichte (optimiert für Tablet-Computer)
und andere Objekte in meine Bilder.
Dann kommt Klein-Philip â mehr als zwei Monate zu früh! â am 1. Mai 1955 auf die Welt. Gott sei Dank hält er durch.
Schon im nächsten Jahr aber packt Harry und mich doch wieder die Sehnsucht nach Paris. Ich will Hugh meine neuen Bilder zeigen. Wir nehmen Abschied von diesem zauberhaften Ort.
In der Impasse Ronsin
In Paris fügt es sich geradezu perfekt: Ein Freund überlässt mir für drei Monate sein Atelier in der Impasse Ronsin, einer Sackgasse mit vielen Ateliers in verschachtelten Hinterhöfen. Gerade hier, wo so groÃartige Künstler wie Max Ernst und Constantin Brancusi ihre Kunst geschaffen haben, kann ICH jetzt arbeiten!
Die Ateliers sind nur ärmliche Holzschuppen, die Fenster klein, geheizt wird mit Kohle, aber egal: Die Atmosphäre ist inspirierend. Ãberall stehen Materialreste und Versatzstücke von Kunstwerken zwischen üppig wucherndem Grün. Ich freue mich schon auf morgen, denn dann treffe ich Hugh endlich wieder.
Â
»Ich hab was Neues entdeckt, Hugh«, verkündet Niki dann auch gleich, als sie bei ihm ankommt. »Voilà !« Voll gespannter Erwartung präsentiert sie ihre neuen Bilder mit den Objekten.
Der tritt überrascht ein paar Schritte zurück und kneift die Augen zusammen, um einen besseren Eindruck von der Gesamtkomposition zu bekommen. Dann geht er nah heran und betrachtet die Details.
»Hm. â Sind das Kaffeebohnen?«
»Ja.«
»Steine?«
»Ja.«
»Und das da?«
»Das ist der Deckel einer Farbdose.«
»Hm â also â¦Â«
»Es ist herrlich, Hugh! Ich kann jetzt so viel SCHNELLER und DIREKTER arbeiten.«
»Ja, aber es geht doch nicht um Geschwindigkeit.«
»Doch, Hugh, für mich schon. Weil ich dann unmittelbar meinen Impulsen folgen kann.«
»Was ist mit der Klarheit des Ausdrucks, Niki?« Hugh wendet sich ihr jetzt zu und schaut ihr direkt in die Augen. »Das kann doch dein Weg nicht sein. Ich sehe hier deine Qualitäten nicht mehr: die Leuchtkraft deiner Farben, die prägnanten Formen ⦠Verschwende nicht dein Talent, bloà weilâs schneller geht.«
Niki schaut ihn nur noch an, zutiefst enttäuscht. Das hatte sie nicht erwartet. Warum versteht er sie so überhaupt nicht? Sie ist sich so SICHER beim Arbeiten. Lange betrachtet sie erneut ihre Bilder, schüttelt dann den Kopf. Nein, für sie führt kein Weg mehr zurück.
Â
Eines Tages schaut Jean Tinguely bei Niki hinein. Sein Atelier liegt nur ein paar Schuppen weiter, sagt er, ob sie sich nicht einmal seine Arbeiten ansehen möchte? Niki schaut ihn überrascht an. Aber dieser Mann mit den dunklen, intensiven Augen, den Lachfältchen an den Schläfen und den buschigen Brauen weckt ihr Interesse, sie geht mit.
Was sie dann zu sehen bekommt, berührt und begeistert sie zutiefst. DrauÃen stapelt sich angerosteter Schrott massenweise und drinnen â da sieht sie genau diesen Schrott in zarte, schalkhafte Reliefs verwandelt! Wie von Zauberhand bewegen sie sich in einem immer gleichen Ablauf: »Kling!«, klopft der kleine Hammer an die Flasche, ratternd zucken die Zahnrädchen. »Kling!«, ⦠Unwillkürlich beginnen Nikis Augen zu leuchten. »Das ist ⦠genial!«, ruft sie aus. Das muss sie Harry zeigen!
Am nächsten Tag bringt sie ihn vorbei, und die beiden kaufen Jean genau dieses Relief mit dem Hämmerchen ab. Derweil erscheint oben ein aparter Kopf mit dunklem Kurzhaarschnitt. »Salut, Eva!«, ruft Niki hinauf. Eva Aeppli ist Jeans Frau, Niki hat sie gestern schon kennengelernt. »Salut, Niki!«, kommt die Antwort zurück. Eva hat dort oben ihr Atelier, während Jean das Erdgeschoss belegt. Auch sie ist Künstlerin und fertigt aus Textilien lebensgroÃe, sehr ausdrucksstarke Skulpturen von Menschen.
Die vier â Harry, Jean, Eva und Niki â treffen sich von jetzt an öfter. Erstaunlich ist, wie Jean und Eva ihre Ehe führen; denn Eva hat in aller Offenheit und Freundschaft neben Jean noch einen sehr jungen Liebhaber und Jean sehr viele Freundinnen.
»Wie kann das gut gehen?«, fragt Niki sich insgeheim schon manchmal.
Schön ist jedenfalls für Niki, dass Jean ihre Bilder gefallen und er sie als Künstlerin ernst nimmt.
Niki und Harry finden bald eine Wohnung in der Rue Alfred Durand-Claye, nicht weit weg von der Impasse
Weitere Kostenlose Bücher